827. Angst zur Geisterstunde

Angst zur Geisterstunde

Es war Mitternacht. Es hatte zur Geisterstunde geschlagen.
Auf dem verstaubten Dachboden eines alten Schlosses machte sich eine kleine Gruppe Geister dazu bereit, bis zum Morgengrauen durch die alten Gemäuer zu spuken und mit ihren Ketten zu rasseln.
Sie hatten alles, was sie dafür brauchten, sorgfältig vorbereitet. Die weißen Bettlaken waren frisch gebügelt, die rasselnden Ketten zum rosten in den Regen gehängt. Selbst die Eisenkugeln der Fußfesseln waren auf Hochglanz poliert worden. Es konnte also losgehen. Sie mussten nur noch durch die Wände gehen und die Gänge entlang schweben.
Aber einer der Geister fehlte. Er war aus völlig unbekannten Gründen nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen.
Hatte er etwa die Geisterstunde verschlafen? Hatte er den falschen Weg hierher eingeschlagen oder war er einfach nur unsichtbar geblieben?
»Wo steckst du?«, riefen die Geister immer wieder. Sie suchten in jeder Ecke, bis sie den vermissten Kameraden in einem Schrank fanden.
Dort schwebte er, zitterte am ganzen Bettlaken und hielt eine brennende Kerze in Händen.
»Was soll das?«, kam schnell die berechtigte Frage auf.
»Wenn ich eine Kerze dabei habe, fürchte ich mich nicht so sehr.«
Ein Geist, der sich fürchtet? So etwas hatte es noch nie gegeben.
»Wovor fürchtest du dich denn? Wir sind Geister. Wir müssen gar nichts fürchten.«
Der Geist seufzte, atmete tief durch und antwortete seinen Artgenossen.
»Ich habe Angst, dass ich im Schloss einem Menschen begegne. Ich habe gehört, dass die voll gruselig sein sollen.«

(c) 2020, Marco Wittler

Bild: Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

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