929. Wenn der Herbst kommt

Wenn der Herbst kommt

Es wurde kalt. Einen Tag später wurde es noch viel kälter.
Der Sommer war schon eine ganze Weile fort. Es war vom Herbst abgelöst worden.
Während die Tage kürzer wurden und die sich die Blätter an den Bäumen in fast allen Farben des Regenbogens verfärbten, fielen die Temperaturen in den Keller.
Viele Tiere des Waldes hatten sich in den letzten Wochen darauf vorbereitet, Vorräte gesammelt und versteckt oder sich genügend Winterspeck angefressen, um im bevor stehenden Winter nicht zu frieren oder zu verhungern.
Aber ein Tier war auf diesen Wechsel der Jahreszeiten nicht vorbereitet gewesen. Es war einfach zu klein, um sich mit so großen Dingen auszukennen.
Paul Wurm, von Beruf staatlich geprüfter Regenwurm, kroch durch einen seiner Gänge, die er in wochenlanger Arbeit im Erdreich gebuddelt hatte, nach draußen und sah sich um, wie er es gelegentlich tat, wenn er gerade nichts zu tun hatte.
An diesem Morgen empfing ihn etwas, das er noch nie zuvor gesehen und gespürt hatte.
Es war im Wald neblig geworden. Man konnte kaum von einem Wurmende zum anderen schauen. Dazu kam, dass es bitter kalt geworden war.
Hätte Paul Wurm Haare besessen, sie hätten ihm kerzengerade auf der glitschigen Haut zu Berge gestanden. Zu einer gepflegten Gänsehaut reichte es aber dann doch.
»Brrr. Was ist denn heute bloß mit dem Wetter los? Da mag man keinen Wurm vor die Türe scheuchen.«
Schnell zog er sich in den Boden zurück und wartete den nächsten Tag ab.
Der nächste Tag kam, danach noch einer und einige weitere. Das Wetter wollte sich aber nicht mehr ändern. Es blieb kalt und wurde immer kälter.
»Das kann doch gar nicht sein. So war das im Sommer aber nicht.«
Mit der Zeit zog die Kälte auch in den Waldboden hinein. Paul Wurm wurde es an den Wurmenden immer kühler und unerträglicher. Schon dachte er darüber nach, sein bisher wohnliches Heim zu verlassen und sich eine neue Bleibe zu suchen. Doch wohin sollte er gehen? Ihm fehlte für eine Reise das richtige Ziel und eine Landkarte, an der er sich orientieren konnte.
Trotzdem hielt er es im Wald nicht mehr länger aus. Er kroch ins Freie, wählte irgendeine Richtung und kroch frustriert los.
Weit kam er allerdings nicht, denn eine Gruppe von riesigen Wesen kreuzte seinen Weg. Sie gingen aufrecht auf zwei Beinen, hatten Haare auf ihrem oberen Ende und sprachen miteinander.
Eines dieser Wesen hatte einen Beutel auf seiner Rückseite hängen, in der ein mit Fell bewachsenes Tier saß.
Diese Wesen waren unglaublich schnell unterwegs, kletterten über Steine, Wurzeln und Äste. Es blieb dabei nicht aus, dass der Beutel hin und her schwankte, das Felltier sich nicht mehr halten konnte und auf den Boden fiel. Dort blieb es unentdeckt liegen.
Paul Wurm wurde neugierig. Das verlorene Tier bewegte sich nicht. Es rief auch nicht um Hilfe. Es bleib einfach dort, wo es war.
Paul Wurm kroch näher, sah es sich von allen Seiten an und musste feststellen, dass es sich um ein unechtes Tier handelte.
Er kroch auf den Schoß dieses Dings und spürte gleich, dass es kuschelig weich und warm war.
»Ui, das ist genau das, was ich gesucht habe.«
Er bohrte sich vorsichtig ein Loch in das Tier kroch hinein und fühlte sich pudelwohl. So kam Paul Wurm bestens vor Kälte geschützt durch den Winter.

(c) 2020, Marco Wittler

Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*