1605. Dino Baba und die vierzig Halunken (Papa erklärt die Welt)

Dino Baba und die vierzig Halunken
oder „Papa, warum sitzen Drachen auf einem Schatz voll Gold?“

»Papa?«
Sofie blickte von ihrem Märchenbuch auf. Papa wusste natürlich sofort, was nun geschehen würde. Er erkannte es schon am Tonfall seiner Tochter.
»Warum sitzen Drachen eigentlich immer in einer Höhle auf einem großen Haufen Gold, Edelsteinen und Geschmeide?«
Sie drehte ihr Buch und tippte mit dem Zeigefinger auf ein Bild. »Kann man hier sehen und es steht sogar im Märchen. Und wenn wir schon dabei sind, kannst du mir auch bestimmt erklären, was Geschmeide ist.«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine sehr gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich irgendwo gelesen habe. Sie handelt von einem gefährlichen Drachen, der auf einen großen, einem wirklich sehr großen Haufen Gold, Edelsteine und Geschmeide aufpasst. Ich muss mal schauen, ob ich sie irgendwo im Regal finde.«
Papa ging zum Bücherregal, suchte von links nach rechts und von oben nach unten. Leise las er sich dabei die einzelnen Titel vor und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Nein, hier steht es nicht. Vielleicht steht es bei Oma im Schrank. Das kann sein. Ich versuche mal, ob ich mich noch an die Geschichte erinnern kann, dann kann ich sie dir aus dem Kopf nacherzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
»Moment!« Sofie stoppte Papa, bevor er überhaupt angefangen hatte. Das hatte sie noch nie getan. Umso überraschter war er dann auch. »Erst musst du mir verraten, was Geschmeide ist.«
Papa lächelte und nickte. »Geschmeide ist ein sehr altes Wort, das man heute nicht mehr benutzt. Es kommt nur noch in alten Märchen vor. Es bedeutet nichts anderes als Schmuck.
Und nun erzähle ich dir die Geschichte, bevor ich sie wieder vergesse. Also … es war einmal …«

Es war einmal ein junger Dinosaurier namens Dino Baba. Er lebte weit von hier entfernt. In Bagdad, das im Orient lag, bewohnte er ein kleines, bescheidenes Haus mit seiner Frau und seinem Sohn.
Na gut, so klein war das Haus nun auch wieder nicht. Aus unserer Sicht würde es uns wohl auch besonders riesig vorkommen. Das lag aber nur daran, dass Dino Baba als Dinosaurier eben sehr viel mehr Platz brauchte als ein kleiner Mensch. Für seine Verhältnisse war es ziemlich klein, denn sein Kopf stieß immer wieder gegen die viel zu niedrige Zimmerdecke.
An einem wunderschönen Sommermorgen ging Dino Baba vor die Stadt. Er wollte von einem der nahen Felder Erdbeeren besorgen. Er hatte sich genug Dinar eingesteckt, um seiner und der Familie seines Bruders Qassim ein leckeres Erdbeerparfait zuzubereiten.
»Wenn mein Cousin Sindbad rechtzeitig von seiner Seefahrt zurückkehrt, kann er auch noch eine Portion bekommen. Vielleicht erzählt er uns dann wieder von seinen vielen Abenteuern.«
Dino Baba seufzte und ließ kurz den Kopf hängen. »Wenn ich doch auch mal von einem Abenteuer berichten könnte, aber hier an Land passiert einfach nichts Aufregendes.«
Aus der Ferne erklang ein leises Geräusch, das sich schnell näherte. Schon wenige Herzschläge später erkannte er es als das Trampeln schwerer Triceratopsfüße.
»Sind das etwa …« Dino Baba sprach seinen Gedanken nicht weiter aus. Er sah sich um, suchte sich einen Felsen als Versteck aus und setzte sich dahinter. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sie ihn nicht entdecken würden. Das war alles andere schwer, denn als großer Brachiosaurus konnte man sich nicht so leicht verstecken.
Schon waren sie heran. »Eins, zwei, drei, …« Dino Baba zählte mit. Bei vierzig Reitern stockte ihm der Atem. »Das sind die vierzig Halunken, die zwischen Bagdad und Marrakesch für Angst und Schrecken sorgten.
Sie hielten an, entstiegen ihren Sätteln und sammelten sich vor einem steilen Berg. Dino Baba drehte sich der Magen um. Er hatte es nicht mit Dinosauriern zu tun. Sie waren Säugetiere. »Wie eklig. Die haben am ganzen Körper Haare. Das muss beim Essen ganz schlimm sein, wenn sie ihnen in die Suppe fällt. Kein Wunder, das der ganze Orient sie fürchtet.«
Ein Halunke trat vor. Er hielt eine seiner Hände an den Berg, schloss die Augen und sprach drei kurze Wörter. »Sesam, öffne dich!«
Der Boden erzitterte. »Ein Erdbeben!« Dino Baba wollte vor Schreck aufspringen und davon laufen., doch dann öffnete sich der Berg und gab den Blick auf eine riesige Höhle frei.
Die Halunken schulterten ihre Beute und gingen hinein. Lange hielten sie sich aber nicht auf, denn schon kurz darauf kamen sie wieder zum Vorschein. Offensichtlich hatten sie ihre Beute verstaut.
»Sesam, schließe dich!« Der Berg tat, wie ihm befohlen wurde. Erneut bebte es und der Eingang verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
Die Halunken setzten sich auf ihre Triceatopse und ritten davon.
Nun hielt es Dino Baba nicht mehr in seinem Versteck aus. Er stand auf und wollte auf dem schnellsten Weg nach Hause laufen, als seine Neugierde erwachte. Er wollte zu gern selbst den Berg öffnen und nachsehen, was sich darin verbarg.
»Sesam, geh auf!«
Der Berg blieb still und bewegte sich nicht. Dafür hörte Dino Baba ein Geräusch aus seiner Umhängetasche. Er schaute hinein und verdrehte die Augen. »Echt jetzt?« Wie von Zauberhand berührt, zerteilte sich das Sesambrötchen, dass er sich Zuhause eingepackt hatte. »Ich habe die Zauberformel wohl nicht richtig nachgesprochen.«
Er legte eine Hand gegen den Fels und versuchte es ein zweites Mal. »Sesam, öffne dich!«
Die Erde bebte, der Berg riss auf und gab den Weg in die Höhle frei, an deren Wänden brennende Fackeln genug Licht spendeten, um etwas sehen zu können.« Dino Baba lief hinein, doch schon nach ein paar Schritten hielt er inne. »Was, wenn die vierzig Halunken zurückkommen, bevor ich wieder verschwunden bin?« Vorsichtshalber verschloss er den Berg und ging vorsichtig weiter.
Er bog um eine Ecke und riss die Augen auf. »Wahnsinn!« Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. Dino Baba hatte ein paar Säcken Beute erwartet. Stattdessen türmte sich nun ein riesiger Haufen Gold, Edelsteine und Geschmeide auf.
»Das ist so viel, davon könnte man den ganzen Orient kaufen. Wenn ich das alles irgendwie in Sicherheit bringen könnte, wäre allen armen Menschen in der Umgebung geholfen. Aber wie soll ich das nur anstellen? Die Halunken werden bestimmt bald wieder auftauchen.«
Als hätte es Dino Baba geahnt, erzitterte der Berg, kaum dass er zu Ende gesprochen hatte.
»Ich brauche sofort ein Versteck. Nur wo?«
Es gab keine weiteren Höhlengänge, keine Nischen oder dunkle Schatten, in denen er sich hätte verkriechen können. Außerdem war er viel zu groß, um übersehen zu werden. »Ich kann mich jetzt nur noch in mein Schicksal fügen. Am Besten stelle ich mich gleich.« Dino Baba überlegte kurz. »Vielleicht gibt es doch noch einen Ausweg. Ich frage sie, ob ich mich ihnen anschließen kann und mache mich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub.«
Dino Baba kletterte auf den riesigen Schatz setzte sich und machte ein möglichst grimmiges Gesicht. Er wollte zum Fürchten aussehen.
Die Halunken bogen um die letzte Ecke. Als sie den unerwarteten Eindringling entdeckten, ließen sie vor Schreck ihre Beute fallen.
Dino Baba nahm all seinen Mut zusammen und sprach, so laut er nur konnte. »Mein Name ist …« Weiter kam er nicht. Seine Stimme war so laut und hallte von allen Höhlenseiten wider, dass der Berg zu beben begann. Die Fackeln an den Wänden fielen aus ihren Halterungen zu Boden und setzten dabei mehrere Beutesäcke in Brand.
Die vierzig Halunken gerieten in Panik. Sie wollten fliehen, sich vor den Flammen in Sicherheit bringen und stießen sich dabei mehrmals gegenseitig um. »Hilfe! Zu Hilfe!« Nach und nach fanden sie den Ausgang. Das Letzte, was Dino Baba zu hören bekam, ließ ihn leise kichern. »Ein Drache hat uns unseren Schatz gestohlen und bewacht ihn mit seinem Feuer.«
Hm. Ein Drache. Keine schlechte Idee.
Dino Baba wartete noch ein Weilchen, bis auch er den Berg verließ. Sorgsam verschloss er den Berg und stellte ein Schild davor auf. »Vorsicht! Feuerspeiender Drache!« Das sollte nicht nur die vierzig Halunken, sondern auch andere Räuber und Neugierige abhalten, den Schatz zu entdecken. Dafür kam er nun täglich hierher, nahm ein wenig Gold mit und verteilte es unter den Armen.

»Und seitdem denkt man, dass Drachen auf einem Schatz sitzen, obwohl es nur ein Dinosaurier war?«
Papa nickte.
Sofie grinste. »Das war eine tolle Geschichte. Ich glaube dir trotzdem kein einziges Wort davon. Ich bin mir nämlich sicher, dass ich sie schon irgendwann einmal gehört habe, nur ein wenig anders.«
»Das kann gar nicht sein.«, behauptete Papa und begann zu lachen.

(c) 2024, Marco Wittler

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