1615. Roselotte Brombeergeist und das blaue Licht

Roselotte Brombeergeist und da geheimnisvolle Licht

Die Nacht war hereingebrochen. Der Himmel über dem großen Wald wirkte, als hätte jemand eine dicke Decke darüber gezogen und mit einer feinen Nadel Löcher hineingestochen.
Der Mond ging hinter dem Horizont auf, kroch langsam höher, bis er sein fahles Licht über die hohen Bäume hinweg auf eine Lichtung werfen konnte. Ein Lichtstahl traf auf eine hoch aufgerichtete Blume, die kurz darauf ihre Blüte öffnete.
Einem lauten Gähnen folgten zwei Arme, die nach oben gereckt wurden. Sie hielten sich an den Blättern fest. Ein kleines Geistermädchen stand auf und rieb sich die Augen. Es sah sich um. Auf der Lichtung war es still. Nieemand sonst war erwacht. »Was soll denn das? Hätte der Mond nicht einfach jemand anderes wecken können? Ich schlafe doch so gern.«
Roselotte Brombeergeist wollte sich schon wieder auf den Weg ins Traumland machen, als sie in der Ferne ein kleines, unscheinbares blaues Licht sah.
»Was ist denn das? Das war letzte Nacht noch nicht hier. Hoffentlich ist es nichts Gefährliches. Ich schaue lieber mal nach dem Rechten.«
Roselotte kroch aus ihrer Blüte und kletterte umständlich zum Boden herab. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg durch die dicht stehenden Grashalme und hinterließ dabei mit ihren schweren Stiefeln tiefe Abdrücke.
Nun magst du dich vielleicht fragen, warum sie nicht einfach über die Lichtung schwebte. Zum einen natürlich, damit man sie nicht schon aus Ferne sehen konnte. Zum anderen war Roselotte bei ihrer Geburt viel zu ungeduldig gewesen und zu früh aus ihrer Blume gekommen. Deswegen konnte sie weder schweben, noch durch Wände gehen, wie es bei Geistern sonst üblich war.
»Hm. Muss ich jetzt nach links oder nach rechts?« Sie entschied sich für links, das war immer die bessere Wahl.
Nach ein paar Minuten konnte sie das blaue Licht auch vom Boden aus sehen. Es schien aus einer kleinen Blume zu kommen.
Roselotte suchte sich einen besonders dicken Grashalm aus, kletterte an ihm hoch und war der gesuchten Blüte zum Greifen nah. Vorsichtig klopfte sie an. »Hallo?«, fragte sie flüsternd, um nicht versehentlich jemanden zu wecken. »Ist jemand Zuhause?«
Die Blütenblätter öffneten sich. Im Innern saß ein kleines Glühwürmchen, das eine Lampe in der einen und ein Buch in der anderen hielt. Noch bevor es dem Geistermädchen antworten konnte, musste es laut gähnen.
»Warum bist du noch wach, wenn du so müde bist.«
Das Glühwürmchen lächelte schief und hob das Buch an. »Die Geschichte ist so spannend, dass ich einfach nicht aufhören kann. Ich muss die Lampe und das Buch festhalten. Das hält mich die ganze Zeit vom schlafen ab. Ich habe leider niemanden zum Vorlesen.«
Nun war es Roselotte, die lächeln musste. »Magst du mir das Buch und deine Lampe geben? Ich würde dir gern vorlesen.«
Das Glühwürmchen nickte begeistert, übergab beides und machte es sich in seiner Blüte gemütlich. Roselotte Brombeergeist kletterte mit hinein und begann, langsam und gefühlvoll zu lesen. Dem Glühwürmchen fielen schon bald die Augen zu. Es war eingeschlafen.
»Träum schön, kleiner Freund. Ich komme Morgen wieder. Dann setzen wir die Geschichte gemeinsam fort.«
Das Geistermädchen wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als es um die Blume herum vielstimmiges Schnarchen hörte. »Hihi. Da habe ich wohl noch ein paar anderen Nachteulen beim einschlafen geholfen.«

(c) 2024, Marco Wittler

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