336. Der Freund aus dem Spiegel

Der Freund aus dem Spiegel

Leon stand im Flur und langweilte sich. Vor ein paar Tagen waren seine Eltern mit ihm in eine neue Stadt gezogen. Nun waren seine alten Freunde viel zu weit weg, um zum Spielen her zu kommen. Neue Freunde hatte er in der kurzen Zeit allerdings auch noch nicht gefunden.
»Ich habe Langeweile. Was soll ich denn jetzt machen?«
Er warf einen Blick in den großen Spiegel an der Wand, aus dem ihn ein kleiner, trauriger Junge ansah.
»Wenn ich doch bloß mit mir selbst spielen könnte.«
Leon trat vor sein Spiegelbild und besah sich neugierig selbst.
»Hast du Lust mit mir zu spielen?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch dann geschah das Unglaubliche. Der Junge auf der anderen Seite begann zu lächeln und nickte erfreut. Er hielt Leon die Hand hin.
Leon erschrak zunächst. Doch dann dachte er nach.
›Das ist doch mein Spiegelbild, also ist er so wie ich. Und vor mir selbst muss ich keine Angst haben.‹
Also gab er seinem Spiegelbild die Hand und zog diesen Jungen in den Flur.
Hui, war das ein Spaß. In den nächsten Stunden verbrachten sie jede einzelne Minute miteinander. Sie spielten Cowboy und Indianer, Räuber und Gendarm, zwischendurch sogar einmal Räuber und Indianer.
So einen schönen Nachmittag hatten die beiden Leons noch nie erlebt.
»Ich bin halt einfach mein bester Freund.«, sagten sie gemeinsam.
In diesem Moment ließ das Spiegelbild seine Mundwinkel fallen.
»Aber ich bin nicht echt. Ich komme von der anderen Seite des Spiegels. Dort muss ich auch bald wieder hin. Außerdem …«
Er machte eine Pause. Doch der richtige Leon verstand sofort.
»Außerdem wissen wir alles voneinander. Es kann niemals spannend sein, weil wir immer wissen, was der andere denkt oder als nächstes machen wird.«
Die beiden nickten sich bestätigend zu.
»Aber ich habe da eine Idee.«, sagte das Spiegelbild plötzlich erfreut.
»Schau doch mal aus dem Fenster.«
Gemeinsam warfen sie einen Blick nach draußen und entdeckten eine Gruppe Kinder, die gerade Fußball spielten.
»Du gehst raus und fragst, ob du mitspielen darfst. Und schon hast du die ersten neuen Freunde gefunden.«
Daran hatte Leon noch gar nicht gedacht. Er bedankte sich, zog sich eine Jacke über und machte sich gleich auf den Weg nach draußen. Bevor er die Treppe nach unten lief, sah er noch ein letztes Mal zurück. Er sah, wie sein ungewöhnlicher Spielgefährte wieder auf die andere Seite des Spiegels ging.
»Leb wohl, mein guter Freund. Auf dich kann ich halt immer zählen.«

(c) 2010, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*