1581. Feen-Laternen

Die Feen-Laternen

»Wir sind gleich da.« Das kleine Schiff steuerte auf die Küste der nahen Insel zu. »Ich hätte niemals gedacht, dass wir es noch pünktlich schaffen werden. Der Sturm vor ein paar Tagen hat uns ganz schön durch geschüttelt und aufgehalten.«
Langsam schob sich der Bug auf den Strand. Die Mannschaft konnte trockenen Fußes an Land gehen.
»Bist du dir auch sicher, dass wir hier richtig sind?« Yoshiko blickt ihren Bruder kritisch an. Wie sollte man in einem großen Wald auf einer noch größeren Insel, von der es immerhin über vierzehntausend gab, genau den richtigen Ort finden?«
Kaito griff schnell zur Schriftrolle, die er vor der Abreise angefertigt hatte. Er überflog die kunstvollen Schriftzeichen, fuhr mit dem Zeigefinger an ihnen entlang und nickte. »Das ist der Ort, der in den alten Schriften verzeichnet ist.« Aus seiner großen Umhängetasche holte er eine kleine Sonnenuhr hervor, platzierte sie im Sand und drehte sie mehrfach hin und her, bis er schließlich zufrieden nickte. »Es ist außerdem der richtige Tag und beinahe die passende Zeit. Wir müssen nur noch bis zum Einbruch der Dunkelheit warten. Dann muss es passieren.«
Die Geschwister betraten den Wald und machten sich auf die Suche. Zu gern hätten sie feste Wege oder zumindest Trampelpfade benutzt. Da aber seit langer Zeit kein Mensch mehr an diesem Ort gewesen war, blieb ihnen nur der beschwerliche Kampf gegen hohe Gräser, Gestrüpp und dichtes Geäst.
Auf kleinen, freien Flächen und Lichtungen machten sie immer wieder Halt, krochen vorsichtig über den Boden und nahmen alles genau unter die Lupe. Doch jedes Mal schüttelten sie enttäuscht die Köpfe und setzten ihren Weg fort.
»Bist du dir wirklich sicher, dass wir richtig sind?«
Kaito nickte kräftig. »Natürlich sind wir das. Wir müssen es einfach sein. Wenn ich mich geirrt habe, wenn die Texte in den alten Schriften falsch sind, dann beginnen meine Studien von vorn und wir müssen ein ganzes Jahr mit einer neuen Suche warten.«
Während sich die Sonne in einem großen Bogen von einer Seite des Horizonts zur anderen bewegte, verging Stunde um Stunde. Aus dem Morgen wurde der Mittag, dann der Abend. Das helle Licht färbte sich langsam orange. Es wurde dunkler. Im Wald war immer weniger zu sehen.
Kaito war erschöpft. Auch war seine Hoffnung auf eine große Entdeckung verflogen. Selbst er bekam mittlerweile das Gefühl, sich doch geirrt zu haben. Er ließ sich auf einem alten Baumstamm nieder, der schon vor längerer Zeit umgestürzt war. »Wir haben es wenigstens versucht, so wie in den anderen Jahren zuvor auch.« Er grub sein Gesicht in seiner Hände, suchte in Gedanken nach dem Fehler.
»Es ist in Ordnung.« Yoshiko setzte sich neben ihn, legte den Arm um ihren Bruder.« Wären wir gar nicht hierher aufgebrochen, hätten wir uns immer gefragt, ob es nicht doch hier gewesen wäre. Außerdem war der Sturm ein wirklich großes Abenteuer, von dem ich noch sehr lange erzählen werde.«
Kaito lächelte schief. Die Aufmunterungsversuche seiner Schwester halfen nur ein klein wenig.
Yoshiko kniff plötzlich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um im Zwielicht des Abends besser sehen zu können. Sie legte den Kopf schief, stand auf und hockte sich auf den Boden. »Moment mal. Ist das etwa …« Vorsichtig schob sie altes Laub zur Seite und befreite eine kleine orange Blüte, die sie bisher übersehen hatten.
»Kaito sprang sofort auf. »Das ist sie. Das ist die Blume, nach der wir so lange gesucht haben.« Er begann wieder zu suchen, räumte größere Mengen abgefallener Blätter weg. Sie fanden mindestens zwei Dutzend der kleinen Pflänzchen.
»Feen-Laternen.«, sagte Kaito begeistert. »Und du hat sie gefunden.« Er holte wieder seine Schriftrolle aus der Tasche. »Sie verbringt ihre ganze Zeit versteckt unter der Erde, kommt nur für eine ganz kurze Zeit hervor. Deswegen ist sie auch so schwer zu finden. Wenn dann noch Laub auf sie gefallen ist, wird es fast unmöglich.«
Yoshiko entfuhr ein freudiger Seufzer. »Schau, Kaito, schau! Es beginnt.«
Von allen Seiten kamen kleine, geflügelte Wesen herbei geflogen, während sich die beiden Menschen ehrfürchtig zurückzogen, um diesen seltenen Moment nicht zu stören.
»Das müssen die Feen sein, von denen in den Schriften berichtet wurde.«
Die kleinen Feen landeten auf dem Waldboden. Jede von ihnen pflückte sich eine Blüte, verneigte sich dankbar vor der kleinen Pflanze und dankte der Natur. Wie auf ein geheimes Kommando begannen die kleinen Laternen zu leuchten. Dann flogen die Feen davon, um sich der Aufgabe zu widmen, die ihnen zugedacht war. Es wurde dunkel.
Kaito und Yoshiko grinsten. Sie hatten ein großes Geheimnis gelüftet. »Lass uns zurück zum Schiff gehen. Wir müssen Mama und Papa davon berichten, dass wir die ersten Menschen sind, die der Geburtsstunde der Glühwürmchen beiwohnen durften.«

(c) 2024, Marco Wittler

Diese Geschichte wurde inspiriert durch einen Bericht über die kleine Pflanze, die ich hier beschrieben habe. Der Rest ist natürlich frei erfunden.

Zum Artikel über die Feen-Laternen (externer Link zu spektrum.de)

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