416. Der Mistelzweig

Der Mistelzweig

Da hing er nun an der Decke des Wohnzimmers. Er war ein kleiner Mistelzweig mit grünen Blättern und ein paar weißen Beeren. Dort oben fühlte er sich allerdings gar nicht wohl.
„Was soll ich eigentlich hier? Ich gehöre doch nicht in ein Haus.“, schimpfte er vor sich hin.
„Ich gehöre in einen Baum, der an der frischen Luft steht, aber nicht in eine stickige Bude.“
Es gab da allerdings ein Problem. Der Zweig hatte keinen Mund. Es konnte ihn niemand hören. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als dort hängen zu bleiben, wo er nun war.
„Oh je.“, seufzte er.
„Jetzt kommen auch noch Menschen herein.“
Tatsächlich betraten gerade ein Mann und eine Frau das Zimmer. Sofort fiel ihnen der Zweig an der Decke auf. Die Frau wurde etwas rot im Gesicht und sah verlegen zu Boden.
„Du weißt doch, was man sagt, wenn ein Mann und eine Frau unter einem Mistelzweig stehen?“, fragte sie ihn.
Da wurde er auch rot und er musste schlucken. Er nickte, bekam aber kein Wort über die Lippen.
Da öffnete sich die Zimmertür und ein kleines Mädchen kam herein gestürmt.
„Mann und Frau müssen sich unter einem Mistelzweig küssen. Das weiß doch jedes Kind.“
Dann lief es lachend in den Flur zurück.
Der Mann lächelte, zog die Frau sanft zu sich und gab ihr einen dicken Kuss. Das fand der Mistelzweig so rührend, dass er sich nun doch freute, im Wohnzimmer zu hängen und nicht mehr in einem Baum.

(c) 2012, Marco Wittler

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