097. Der Traummacher oder „Papa, woher kommen die Träume?“ (Papa erklärt die Welt 10)

Der Traummacher
oder »Papa, woher kommen die Träume?«

»… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Papa klappte das Märchenbuch zu
Liest du mir noch eine zweite Geschichte vor?«, fragte Sofie.
»Nein, für heute ist Schluss. Es ist schon spät genug. Es ist Zeit, dass du schläfst.«, kam die Antwort.
Papa deckte seine kleine Tochter zu. Er gab ihr noch einen Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht.
»Schlaf gut, mein Engel und träum schön.«
Sofie zog die Stirn kraus.
»Papa, woher kommen eigentlich die Träume?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem Traummacher. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein junger Bursche mit Namen Martin.
Martin war ein Geschichtenerzähler. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, dass er von Stadt zu Stadt zog, den Leuten die neuesten Neuigkeiten und den Kindern Geschichten und Märchen erzählte. Reich konnte man damit freilich nicht werden, aber dennoch machte es unglaublich viel Spaß.
Martin kannte alle Märchen und Geschichten des ganzen Landes. Es war ihm noch nie passiert, dass er in eine Stadt kam, den Kindern etwas erzählte und ihm anschließend jemand sagen musste, dass man diese Worte an diesem Ort bereits gehört hatte.
Der Geschichtenerzähler war überall sehr beliebt. Schon Tage, bevor er des Weges kam, verbreitete sich die Nachricht seiner Ankunft wie ein Lauffeuer.
Die Bürgermeister ließen Bühnen aufbauen und Feste vorbereiten. Die Schulen wurden informiert, dass die Kinder nicht zum Unterricht gehen mussten.
Eines Tages kam Martin in die Stadt des Königs. Er war noch nie hier gewesen, es würde sein erster Besuch sein. Doch auch hier hatte man von seinen schönen Geschichten bereits gehört. Der Bürgermeister bereitete alles vor und informierte jeden Bürger.
Als der Geschichtenerzähler auf seinem Esel durch das Stadttor geritten kam, stand bereits eine Bühne auf dem Marktplatz und eine große Horde Kinder wartete sitzend drum herum.
Martin stieg eine kleine Treppe empor, setzte sich in einen gemütlichen Sessel und holte aus einer seiner Taschen ein dickes Buch hervor.
»Ich freue mich, dass ihr alle hierher gekommen seid, um mir zuzuhören. Ich kann euch versprechen, dass ich viele Geschichten aus allen Ecken unseres schönen Landes mitgebracht habe und sie euch gefallen werden.«
Die Leute wurden still. Alle hingen nun gebannt an Martins Lippen. Sie wollten nicht einen seiner gesprochenen Sätze versäumen.

Ein wenig Abseits dieses Festes saß der König im Thronsaal seines Schlosses. Er beriet sich gerade mit seinen Ministern über neue Gesetze, als er alle Anwesenden mit der erhobener Hand um Ruhe bat.
»Was stimmt nicht in unserem Königreich? Da geht doch etwas vor sich, wovon ich nichts weiß. Wer von euch kann mir mehr berichten?«, fragte er.
Die Minister wussten nicht, was er meinte und zuckten nur mit den Schultern.
»Was ist in der Stadt los? Es ist plötzlich so still, wie sonst nie um die Mittagsstunde. Plant das Volk einen Aufstand oder ist eine böse Krankheit ausgebrochen? Findet sofort heraus, was dort vor sich geht.«
Die Minister sprangen sofort auf und verließen den Thronsaal. Sie stürmten in alle Richtungen um ihre Berater zu befragen.
Der Diener des Königs, der still am Fenster gestanden hatte, ging indes zu seinem Herrn und berichtete ihm, dass ein berühmter Geschichtenerzähler in die Stadt gekommen sei und er für die merkwürdige Stille verantwortlich gemacht werden könne.
»Die Leute hängen so sehr an seinen Lippen, dass ihnen kein einziges Wort mehr aus dem Munde kommt.«
Der König dachte nach und grübelte. Schließlich gab er einen Befehl.
»Solch einen Mann kann ich gut bei Hofe gebrauchen. Holt ihn in mein Schloss und stellt ihn in meinen Dienst. Er soll der erste königliche Geschichtenerzähler des Landes werden und künftig mich, meine Familie und den Hofstaat mit seinen Märchen unterhalten.«
Und so geschah es auch.

Martin hatte gerade einmal eine Geschichte erzählen können, bis die Ritter des Königs ihn abgeholten. Sie führten ihn in den Thronsaal, wo er neu eingekleidet und dem König vorgestellt wurde.
»Von nun an«, sagte der König feierlich, »sollst du an meinem Hofe leben und mir Geschichten erzählen, damit ich niemals an Langeweile leiden muss.«
Martin freute sich natürlich sehr über dieses Angebot. Nun hatte er regelmäßig etwas zu Essen, ein Dach über dem Kopf und schon sehr bald würde er sehr wohlhabend sein. Aber alles sollte anders kommen, als es gedacht war.
Der König und sein Gefolge erfreuten sich tagtäglich am Geschichtenerzähler. Jeden Abend ließen sie sich ein oder zwei Märchen vorlesen.
Doch schon bald war ihnen das nicht mehr genug. Sie wollten mehr und immer mehr hören. Schon nach dem Aufstehen stand Martin am Bett des Königs bereit und erzählte, was er im ganzen Land gehört hatte. Während des Frühstücks ging es weiter. Bis zum Abend taten die Menschen im Schloss nichts anderes mehr, als ihrem Geschichtenerzähler zuzuhören. Erst als sie müde in ihren Betten lagen, kam Martin zur Ruhe.
Das viele Zuhören hatte natürlich seine Folgen. Denn schon bald trafen der König und seine Minister keine Entscheidungen mehr. Sie erließen keine Gesetze und verurteilten keine Verbrecher mehr. Das ganze Land war unwichtig geworden. Sie wollten nur noch Märchen hören.
Schon sehr bald verarmte das Land und die Menschen mussten hungern. Es gab nur einen Menschen, der davon etwas hörte.
Sofort erzählte Martin dem König von den vielen Problemen im Land. Als dann die Minister davon erfuhren, reagierten sie schockiert. Es musste sofort etwas unternommen werden, damit das Volk nicht krank wurde oder sterben musste.
Wenn da doch bloß nicht diese vielen schönen Märchen und Geschichten wären, die sie unbedingt hören wollten. Aber sie hatten doch nur für eine Sache Zeit. Es musste eine Lösung her.
Der König erteilte Martin den Auftrag, er solle sich etwas einfallen lassen.

Tagelang brütete Martin über diesem Problem. Er erzählte niemandem mehr eine Geschichte. Stattdessen versuchte er die rettende Lösung zu finden, denn das Erzählen von Geschichten und Märchen war sein einziger Lebensinhalt. Er musste einfach erzählen.
Eines Nacht lag er noch lange wach im Bett und erzählte sich selber eine kleine Geschichte. Dabei schlief er ein und erlebte den Rest seines Märchens im Schlaf.

Am nächsten Morgen war Martin ganz aufgeregt. Er konnte noch gar nicht glauben, was er in der letzten Nacht erlebt hatte. Er hatte eine Geschichte während des Schlafs genießen können. Das war die Lösung, die er gesucht hatte. Wenn der König und sein Gefolge von nun an seine Märchen im Schlaf erleben konnten, hatten sie tagsüber genug Zeit, das Land zu regieren.
Als der König davon erfuhr, war er zunächst etwas unsicher. Er wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Geschichten im Schlaf? War das wirklich etwas Gutes oder war man dann zur Strafe am nächsten Tag viel zu müde, um arbeiten zu können? Aber zumindest war es ein Versuch wert.
Martin setzte sich am Abend in das Schlafgemach des Königs und wartete darauf, dass dieser einschlief. Ein paar Minuten später begann er, eine Geschichte zu erzählen. Doch nach ein paar Sätzen hörte er auf und lies den König den Rest selber erleben.

Am Morgen wachte der König erfrischt auf und war begeistert von dieser neuen Methode.
»Martin, du bist ein wirklich guter Erfinder. Wenn wir dich nicht hätten. So gut und erholt habe ich mein ganzes Leben noch nicht geschlafen. Von nun an, will ich jede Nacht eine Geschichte im Schlaf erleben und mein Volk soll auch daran teilhaben.«
Martin wurde rot im Gesicht. So viel Lob hatte er gar nicht erwartet. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er noch eine große Aufgabe vor sich hatte. Wie sollte er denn das ganze Volk mit Träumen, so nannte er seine Nachtgeschichten, versorgen?
Wieder grübelte er viele Tage lang, bis er eine kleine Maschine erfand, mit der er jedem Menschen im ganzen Land den Beginn eines Traumes zuflüstern konnte, ohne sein Zimmer verlassen zu müssen.
Von nun an, schliefen die Menschen wesentlich besser. Sie träumten in jeder Nacht und waren glücklich und zufrieden.

»Und noch heute erzählt mir der Martin einen Traum in meinen Kopf, wenn ich schlafe?«
Papa schüttelte den Kopf.
»Nein, denn mittlerweile träumen nicht nur das Volk dieses Königreichs, sondern alle Menschen auf der ganzen Welt. Das wäre selbst für den Traummacher Martin zu viel. Er hat eine große Menge Helfer, die ihm dabei zur Seite stehen.«
Sofie gähnte und zog sich die Decke über den Kopf.
»Dann soll mir mal einer dieser Traummacher ganz schnell eine Geschichte in meinen Kopf schicken. Ich bin nämlich hundemüde und werde bestimmt ganz schnell einschlafen.«
Papa nickte nur, gähnte ebenfalls und verließ leise das Zimmer.
Noch einmal sah Sofie unter der Decke hervor und flüsterte leise vor sich hin.
»Und trotzdem glaube ich dir kein einziges Wort davon.«
Sie kicherte, schlief ein und träumte einen wunderschönen Traum.

(c) 2008, Marco Wittler

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