1013. Der Cartoonist

Der Cartoonist

Ich saß vor diesem leeren Blatt Papier, hatte mir einen Bleistift daneben gelegt, ein Radiergummi war in Griffweite. Ich wollte meinen allerersten Cartoon zeichnen und damit meinen vielen Vorbildern nacheifern, die ich mir täglich im Internet begeistert ansah. Diese kleinen Bildchen mit Sprechblasen sahen immer so einfach gemacht aus, dass ich der felsenfesten Meinung war, das auch zu können. Aber ganz so einfach war es dann doch nicht. Meine Probleme begannen nämlich schon bei der ersten Idee.
Ich saß also vor meinem Blatt Papier, das immer noch weiß und leer wie zu Anfang war und wusste nicht, was ich zeichnen sollte. Ich hatte mir vorgenommen, den besten Bilderwitz aller Zeiten zu zeichnen. Ich wollte, dass sie die Menschen auf der ganzen Welt beim Lesen meines Cartoons vor Lachen und Kringeln die Bäuche halten mussten. Das war mein Plan. Aber was war denn überhaupt der beste Bilderwitz aller Zeiten? Er wollte mir nicht einfallen.
Um wenigstens etwas warm zu werden, nahm ich den Bleistift in die Hand und fing einfach an. Ich zeichnete ein Strichmännchen und musste grinsen. Es sah nicht so wahnsinnig toll aus, aber immerhin war es ein Anfang. Sofort zeichnete ich eine Sprechblase daneben. Diese blieb dann aber erstmal leer. Mir fiel kein Text ein.
Ich seufzte laut. Das kreative Leben eines Cartoonisten hatte ich mir irgendwie anders, einfacher vorgestellt. Das schien es aber wohl doch nicht zu sein.
Ich verwarf meine erste Zeichnung, knüllte das Papier zusammen und wollte es gerade in den Müll werfen, als es im Innern zu knistern begann. Irritiert entfaltete ich das Blatt wieder und erschrak. Hätten sie es nur gekonnt, wären mir die Augen aus ihren Höhlen gefallen. Dafür klappte mein Kiefer weit nach unten.
Das Strichmännchen, dass ich vor ein paar Minuten gezeichnet hatte, bewegte sich. Es schien zu leben.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen, wischte einmal mit der Hand darüber und blickte zurück auf das Papier. Das Strichmännchen bewegte sich noch immer. Und mehr noch: Es griff nach der Sprechblase, wirbelte sie wie ein Lasso über seinem Kopf im Kreis und warf es mir anschließend entgegen.
Das gezeichnete Seil erwischte meinen Zeigefinger und wurde daran festgezurrt. Das Strichmännchen löste sich vom Papier und kletterte mir mit grimmiger Miene entgegen. Das Zerknittern musste es ziemlich sauer gemacht haben.
»Tut … tut mir leid, Kleiner. War nicht meine Absicht. Kommt auch nie wieder vor.«
Das Strichmännchen ließ sich von meinen Worten nicht aufhalten. Es kam mir näher und näher.
Konnte es mir gefährlich werden? Hatte es eine Waffe irgendwo an seinem dünnen Körper versteckt, die ich nicht sehen konnte?
Es erreichte meinen Finger und stach mir mit seinem Arm, der nur aus einem dünnen Strich bestand, durch die Haut.
»Autsch! Verdammt! Das tut weh.« Ich schrie auf, schüttelte das Männchen ab und musste zusehen, wie mir ein Blutstropfen abhanden kam. Ich wusste sofort, dass ich ihn eines Tages sehr vermissen würde. Aber es war zu spät. Wir waren auf ewig getrennt.
»Warte, Bürschen. Jetzt hast du ein Problem.«
Ich griff nach meinem Widersacher, wollte ihn fangen und in einem Einmachglas einsperren. Doch das war schwieriger als gedacht. Das dürre Strichmännchen rutschte mir immer wieder durch die Finger und zeigte mir jedes Mal seine verächtliche Zunge.
Ich musste das Kerlchen unbedingt loswerden und sah mich verzweifelt um. Mein Blick fiel auf das Radiergummi, das vor mir auf dem Schreibtisch lag.
»Dein letztes Stündchen hat geschlagen.«, brüllte ich, nahm den Gummi und fuhr zwei, drei Mal über das Strichmännchen, bis es restlos verschwunden war.
»Puh!« Was für ein schräges Erlebnis. Ich konnte selbst kaum glauben, dass mir so etwas vor wenigen Augenblicken geschehen war und wusste nur zu gut, dass mir das auch niemand glauben würde.
Ich räumte Papier, Bleistift und Radiergummi weg und nahm mir vor, es nie wieder mit dem Zeichnen von Cartoons zu versuchen. Es war mir schlicht zu gefährlich. Stattdessen war ich froh, dass es andere Cartoonisten gab, die ihren Job viel besser verstanden als ich.

(c) 2021, Marco Wittler


Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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