Flaschenpostbote Knut hat ein viel zu weiches Herz
Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er den Seestern auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.
Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Ihm folgte ein großer Krake, der die restlichen Taschen in seinen Armen hielt. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut! Fiete! Enno!«, stürmten sie laut rufend auf die Drei zu. »Könnt ihr uns eines eurer verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Wir hatten vor ein paar Tagen eien Begegnung mit einem echt fiesen Typen. Davon werden wir euch berichten.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.
Flaschenpostbote Knut hatte seine lederne Umhängetasche geschultert und war nun in Begleitung seines Kollegen, dem Kraken Fiete, der die restlichen Taschen trug und dem Seestern Enno, der auf seiner Brust als Postschild prankte, unterwegs in der Stadt. Die Flaschenpost musste ausgetragen werden.
Es war ein ziemlich anstrengender Tag, denn heute waren es besonders viele Flaschen, die zu ihren Empfängern gebracht werden mussten. Selbst der kräftige Fiete hatte an jedem seiner acht Arme zwei Taschen statt einer hängen.
Die Drei schufteten und mühten sich richtig ab, um ihren Zeitplan einzuhalten, den sie noch nie überzogen hatten. Das sollte auch heute nicht geschehen. Doch irgendwann war einfach die Puste aus. Die Schwanzflosse des alten Meermanns schmerzte, die Arme des Kraken bekamen einen kräftigen Muskelkater und das Dauerlächeln des Seesterns sah auch nicht mehr so ganz frisch aus. Sie brauchten einfach eine Pause.
Knut setzte sich auf einen Stein am Straßenrand, Fiete ließ sich daneben nieder und Enno blieb einfach, wo er war.
Plötzlich zwickte es in Knuts Schwanzflosse. Ein neuer Schmerz kam zum bisherigen dazu. Verwirrt sah er an sich herab und entdeckte einen Krebs, der sich mit seiner Schere an der Schwanzflosse festhielt.
»Moin!«, sagte Enno mit seiner ungewöhnlich tiefen Stimme und grinste wieder.
»Was soll denn das werden?«, stöhnte Knut. »Kannst du bitte loslassen? Das tut weh und ich habe eh schon so viel zu schleppen heute. Da kann ich dich nicht auch noch gebrauchen.«
Der Krebs machte große, traurige Augen und sah den Flaschenpostboten damit an. »Tut mir leid. Ich habe ein großes Problem. Ich habe einen Termin auf der anderen Seite der Stadt. Familienangelegenheit. Leider hat der Bus mich übersehen, weil ich so klein bin. Deswegen war es meine Hoffnung, dass ihr mich mitnehmen könnt.«
Knut hatte eigentlich keine Lust, Krebstaxi zu spielen, nickte aber dann doch. Er hatte einfach ein viel zu großes Herz in seiner Brust schlagen.
»Also gut. Ich nehme dich mit. Wir sind eh auf dem Weg zur anderen Stadtseite.«
»Prima.« Der Krebs freute sich und pfiff laut. Sofort stürmten zwei Dutzend weiterer Krebse herbei und kniffen sich ebenfalls in Knuts Schwanzflosse fest.
»Moin!«, sagte Enno erneut.
»Beim Neptun!«, fluchte Knut. »Was soll das denn werden?«
»Familienangelegenheit.«, antwortete der Krebs. »Hatte ich doch vorhin schon erwähnt.«
Die Kinder der Grundschule sahen die Flaschenpostboten mit großen Augen an. Das war vielleicht eine schräge Nummer mit den vielen Krebsen.
»Ihr könnt uns glauben, alles was wir erlebt haben, ist wahr.« Zum Beweis zeigte der Meermann seine Schwanzflosse vor, in der sich fünfundzwanzig kleine Löcher befanden.
»Das wird noch eine Weile dauern, bis die wieder zugewachsen sind.«
Knut, Fiete und Enno der Seestern winkten noch einmal zum Abschied, und machten sich wieder auf den Weg.
(c) 2021, Marco Wittler
Bild: Nik Karlov auf Pixabay
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