1088. Das Schloss der Kirche

Das Kirchenschloss

Wie an jedem Sonntag, machte sich der Bischof am frühen Morgen auf den Weg zur Kirche. Unter seinem Arm klemmte eine dicke, lederne Tasche, in der sich seine handschriftlichen Notizen zur Predigt befanden, die er der Gemeinde schon bald vorlesen wollte.
Während er den Weg von seinem Haus zum Gotteshaus entlang spazierte, pfiff er ein altes Kirchenlied, dass er die Besucher der Messer singen lassen wollte.
»So ein schöner Tag.«, war der Bischof glücklich. »Für so ein tolles Wetter kann nur der Herrgott gesorgt haben.«
Nach ein paar Minuten bog er ab, durchschritt die Öffnung der dicken, alten Mauer und stand vor den breiten Holztüren der Kirche.
Lange kramte er in seiner tiefen Manteltasche, förderte dabei ein altes Bonbonpapier nach dem anderen zu Tage und fand schließlich den großen Messingschlüssel. Der Bischof steckte ihn in das Schloss und wollte ihn gerade umdrehen, als er verwundert die Hand zurück zog.
»Nanu? Was ist denn hier los?«
Der Schlüssel wollte sich keinen Millimeter im Kreis drehen.
»Ist das Schloss etwa kaputt? Meines Wissens nach ist das in den fünfhundert Jahres seines Bestehens noch nie passiert.«
Der Bischof versuchte es noch ein paar Mal, musste sich dann aber geschlagen geben. Die Türen blieben verschlossen.
»Verdammt!«
Er schlug verschämt die Hände vor den Mund und wurde rot im Gesicht. »Tut mir leid, Herr.«, entschuldigte er sich. »Ich wollte wirklich nicht fluchen. Aber du siehst ja selbst, dass hier etwas nicht stimmt.«
Der Bischof zog den Schlüssel wieder aus dem Schloss und sah mit zu Schlitzen gekniffenen Augen in die Öffnung. Da sah ihn jemand an.
»Hey!«, rief ihm eine Schlupfwespe entgegen. »Verschwinde hier. Ich habe das Loch als Erste entdeckt. Hier werde ich mein Nest bauen. Such dir gefälligst einen eigenen Platz.«
Die Wespe wedelte bedrohlich mit ihrem Stachel, um den Menschen zu vertreiben.
Der Bischof schrak zurück, sah sich verdutzt um und wusste zunächst nicht, was er machen sollte. Doch dann zuckte er mit Schultern und machte ein paar Schritte rückwärts.
»Jedes noch so kleine Tier ist ein Geschöpf des Herrn. Dann feier ich den Gottesdienst mit der Gemeinde eben hier auf der Wiese.«

(c) 2021, Marco Wittler


Bild von robotSchnoubab auf Pixabay

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