1110. Der Kater aus der Bronx (Mann und Manni 50)

Der Kater aus der Bronx

Die Welt war eine ganz schön große Sache. Eigentlich hatte ich mir unser Wohnmobil schon als sehr groß und übersichtlich vorgestellt, immerhin hatten wir darin zu sechst Platz gefunden. Unsere WG, die aus zwei Menschen und vier Katzen bestand, war damit nun schon eine ganze Weile unterwegs gewesen. Doch was ich nun erlebte, sprengte alles, was ich je in meinen Träumen und Alpträumen gesehen hatte.
Wir saßen in einem Flugzeug. Es war ein Jumbo-Jet, in dem Fluggäste auf zwei Etagen saßen, um von einem Land in ein anderes zu gelangen. Wir hatten dabei einen kompletten Ozean überquert, den Atlantik. Der hatte mal so gar nichts mit einer Badewanne oder einem Schwimmbad zu tun. Egal, in welche Richtung ich blickte, es war nirgendwo ein Ufer zu sehen. Mich gruselte vor einem Absturz. Ich wollte auf keinen Fall im Wasser landen, nur mit einer Schwimmweste bekleidet. Ich als Kater hatte ein eher schlechtes Verhältnis zu diesem Element.
Irgendwann tauchte dann doch endlich wieder eine Küste auf. Auch diese war atemberaubend. Riesige Wolkenkratzer waren dort in den Himmel gewachsen und schienen Millionen Menschen zu beherbergen. Schon beschlichen mich erneute Ängste. Wie voll mochte es in den Straßen sein? Würden wir uns dort verlaufen können? Zu gern hätte ich der Anzeige auf dem Monitor vor mir den Namen dieser Stadt entnommen, aber in der Kunst des Lesens war ich nicht gerade gut geschult. Glücklicherweise klärte mich die Frau, auf deren Schoß ich saß, über unser Urlaubsziel auf. Wir befanden uns im Landeanflug auf New York, der Mega-Stadt, die niemals schläft.
Wir landeten, bekamen unser Gepäck, wurden von der Grenzpolizei genauestens unter die Lupe genommen und bestiegen schließlich ein Wohnmobil, in dem man unser Eigenes locker zweimal hätte stecken können. In Amerika war einfach alles mindestens eine Nummer größer.
Bevor wir ins Landesinnere aufbrauchen, erkundeten wir die Stadt. Schon mit einem normalen Auto war es schon schwierig vorwärts zu kommen. Die Straßen waren rund um die Uhr verstopft. Mit dem Wohnmobil war es noch schwieriger. Mehrmals kamen wir zum Schluss, dass wir die Stadt mit der U-Bahn besser hätten durchqueren können.
Während der Fahrt durch den weltbekannten Stadtteil Manhattan bekamen wir alle einen steifen Nacken. Die Wolkenkratzer waren einfach viel zu hoch. Hier war ich sofort fest entschlossen, niemals auch nur eine Pfote in ein solches Monstrum zu stellen. Ich hatte keine Höhenangst, wusste aber, dass ich sie in einem der obersten Stockwerke definitiv bekommen würde.
Etwas später, wir hatten einige der bedeutendsten Bauwerke gesehen und erlebt, machten wir uns auf den Weg zum Festland, um Amerika touristisch zu erobern. Während wir vor einer großen Brücke im Stau standen und es irgendwie gar nicht mehr weiter ging, näherte sich jemand unserem Fahrzeug. Es war ein Kater, der eine schicke Weste und eine Schiebermütze trug. Er sah uns durch die große Frontscheibe an und sprang schließlich auf den Rahmen des geöffneten Fensters der Beifahrertür.
»Ihr müsst neu in der Stadt sein.«, murmelte er sich in seine Schnurrhaare und lächelte uns an. »Ich erkenne das sofort. Menschen, die von Außerhalb kommen, sehen einfach anders aus.«
Da wir eh nichts anderes zu tun hatten, ließ ich mich von ihm in ein Gespräch verwickeln. Ich erfuhr, dass sein Name Tony war, er aus dem nördlichen Stadtteil Bronx stammte und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Touristen mit den wichtigsten Informationen zu versorgen. Auf Wunsch bot er sogar Stadtführungen an.
Mittlerweile war Tony herein gekommen und saß mit mir zusammen auf meinem großzügigen Ruheplatz hinter dem Fahrersitz. Wir plauderten, ich lernte eine Menge über New York und war von meinem sympathischen Gegenüber ganz angetan. Schon spielte ich mit dem Gedanken, den Rest der WG zu fragen, ob wir den Kater eine Weile auf unserer Reise mitnehmen sollten, als es plötzlich wild in seinen Augen aufblitzte. Ohne Vorwarnung schnellte seine Pfote vor, krallte sich in meine Lieblingsplüschmaus und stahl sie mir. Mit seiner Beute sprang er aus dem Türfenster und flitzte die Brücke entlang.
Ich begann zu schreien. Ich jagte ihm die schlimmsten Verwünschungen an den Kopf, die man sich nur vorstellen konnte. Schon wollten mein Team und ich uns auf die Jagd machen, doch da kam aus heiterem Himmel ein großer Vogel herab geschossen. Er griff nach dem Dieb und flog mit ihm davon.
Verdammt! Gab es in dieser Stadt eigentlich nur Verbrecher und steckten sie etwa all gemeinsam unter einer Decke? Wie sollte ich jetzt noch an meine Lieblingsplüschmaus kommen? Wie sollte ich in Zukunft ohne sie einschlafen können.
Plötzlich jagte etwas an mir vorbei, dass von hinten aus einem der Schatten gekommen war. Shadow Cat. Er war tatsächlich hier. Der Kater, der mit Cape und Augenmaske bekleidet war, sprang ebenfalls nach draußen. Er nahm die Verfolgung auf, die ich bis gerade eben noch für aussichtslos gehalten hatte. Mit Shadow Cat änderte sich das natürlich schlagartig. Er konnte das Unmögliche möglich machen.
Mit gekonnten Sprüngen war er auf den Fahrzeugdächern unterwegs, schien regelrecht über sie hinweg zu schweben, so elegant sah es aus. Mit jedem Schritt wurde er schneller. Er kam dem diebischen Duo immer näher, bis er zum finalen Sprung ansetzte, ihnen entgegen strebte und mit seinen starken Krallen zugriff.
Zu dritt stürzten sie auf den Asphalt, rollten gemeinsam ein paar Meter weiter und blieben schließlich unbewegt liegen.
Wir anderen hielten den Atem an. Mann und Frau saßen direkt hinter der Frontscheibe. Lord Schweinenase und die Mini-Mietze saßen jeweils zu meiner linken und meiner rechten Seite. Sie wagten es nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben. Der Einzige, der hier fehlte, war der Bengale. Wie konnte er sich dieses Schauspiel nur entgehen lassen? Das war so typisch. Er war von uns der Einzige, der Shadow Cat noch nie in Aktion erlebt hatte.
Wir warteten gespannt, wie es nun weiter ging. Hatten die drei am Boden Liegenden überlebt oder waren sie schwer verletzt oder gar tot? Wir konnten es auf die Entfernung nicht erkennen.
Doch dann reckte sich eine Pfote hoch in die Luft. Die war braun behaart mit dunklen Flecken. Es war Shadow Cat. Er war wohl auf. In seinen mächtigen Krallen hielt er meine Lieblingsplüschmaus, die er nun hoch erhobenen Hauptes zum Wohnmobil zurück brachte. Die beiden Diebe schob er noch an den Straßenrand, damit sie nicht von einem der Fahrzeuge überrollt wurden.
Shadow Cat war der Allerbeste. Für diesen Einsatz sollte ich ihm ewig dankbar sein. Er machte New York doch noch zu einem unglaublichen Erlebnis, an das ich noch lange denken sollte.

(c) 2021, Marco Wittler


Image by Królestwo_Nauki from Pixabay

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