1130. Wer ist da?

Wer ist da?

Es war kühl geworden in dieser Oktobernacht. Dicke Wolken zogen immer wieder über den sonst sternenklaren Himmel und ließen auch den Mond immer wieder hinter sich verschwinden. Einzelne Windböen wirbelten die Vorhänge am Fenster hin und her.
Die holde Maid, die gerade ins Bett gehen wollte, fröstelte und bekam kalte Füße. Sie zog sich ihr weiches Wolljäckchen über und schloss das Fenster. Erst dann löschte sie Kerzen, die an der Tür neben der Wand angebracht waren und schlüpfte unter die dicke Decke.
Sie packte sich rundherum ordentlich ein, damit nichts von ihrer wenigen Körperwärme entweichen konnte. Sie war bereit, sich dem Schlaf hinzugeben und in tiefe Träume zu entschwinden. Ihr Bewusstsein löste sich, schwebte dahin und wollte gerade in fantastische Welten entschwinden, als die Maid von einem Geräusch in das Hier und Jetzt zurück gerissen wurde. Eine der Holzbohlen, aus denen der Boden gelegt worden war, knarzte leise.
Sie riss die Augen auf und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren.
»Wer ist da?«, fragte sie, erhielt aber keine Antwort. »Wer ist da? Ich habe dich gehört. Gib dich zu erkennen.«
Das Herz schlug ihr bis zur Kehle. Sie begann, schneller zu atmen. Ein Gefühl von Angst und Panik stieg in ihr empor. Wer befand sich in ihrem Gemach?
»Ich bin mit fünf Brüdern aufgewachsen. Ich habe schon früh gelernt, mich zur Wehr zu setzen.«
Sie stand auf, schlich auf Zehenspitzen zur Wand und entzündete mit einem Streichholz die Kerzen. Licht flammte auf. Die Maid konnte sich umsehen und entdeckte nichts. Sie war allein.
»Was soll das? Ich habe das doch nicht geträumt.«
Sie zweifelte an sich und wollte schon wieder ins Bett kriechen, als es erneut hinter ihr knarzte.
Sie blickte vor sich in den Spiegel und sah mit großem Schrecken einen Umhang, der auf sie zu schwebte. Sie wirbelte herum und sah sich einem Vampir gegenüber.
»Wer bist du? Was willst du von mir?«

Nun war es der Vampir, der erschrak. Er musste feststellen, dass er zwar kein Spiegelbild besaß, wie es landläufig bekannt war, aber sein neuer Umhang war mehr als deutlich zu erkennen.
»Hätte ich bloß auf den blöden Stofffetzen verzichtet.«
Er schüttelte den Kopf und ging mit großen Schritten zum Fenster. Er riss es auf, schwang sich nach draußen und warf der Maid einen letzten Blick zu.
»Heute bist du davon gekommen. Aber beim nächsten Mal gehört dein Blut mir.«
Mit einem lauten Lachen verschwand er in der Nacht.

(c) 2021, Marco Wittler


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