Die Zähne des Vampirs
Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang, als er verfrüht geweckt wurde. Er konnte durch einen Schlitz seines Schlafplatzes noch die letzten Reste des Sonnenscheins erkennen.
»Verdammtes Licht!«, fluchte er. »Ich muss hier dringend raus, bin aber noch in meinem eigenen Reich gefangen.«
Er hob seine Hand zur Wange und strich sich vorsichtig darüber. Die sonst blasse Haut war bestimmt gerötet. Ungeduldig wartete er auf das Ende der Dämmerung und den Beginn der Nacht.
Als es endlich dunkel geworden war, schob der Vampir den Deckel seines Sarges zur Seite. Mühselig kletterte er aus der Holzkiste und wäre beinahe in den Knien eingeknickt. Die Zahnschmerzen, die er ertragen musste, waren einfach nicht mehr zu ertragen.
»Ich muss mich dringend behandeln lassen. Hoffentlich finde ich einen Zahnarzt, der um diese Zeit noch geöffnet hat.«
Der Vampir verwandelte sich in eine Fledermaus und flog in die Nacht hinaus.
Seine Suche sollte nicht lange dauern, denn in der nahen Kleinstadt brannte in einer Praxis noch Licht. Sie war zwar geschlossen, aber es musste noch jemand da sein.
Der Vampir klopfte an. Es wurde geöffnet. Ohne sich weiter zu erklären, drängte er hinein, suchte sich ein Behandlungszimmer aus und zog den Zahnarzt mit sich.
»Ich habe Zahnschmerzen, du musst mir unbedingt helfen. Ich halte das nicht mehr länger aus.«
Der Zahnarzt, kreidebleich im Gesicht, nickte nur und nahm die Zähne genau unter die Lupe.
»Es tut mir wirklich leid, denn ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Deine Eckzähne sind hinüber. Die kann man nicht mehr retten. Die müssen raus.«
Der Vampir erschrak. Wie sollte er denn dann in Zukunft in Kehlen beißen und Blut trinken?
»Für deinen Durst lassen wir uns etwas einfallen.«, versprach der Zahnarzt. »Ich habe einen fleißigen Zahntechniker, der wird dir ein paar Brücken bauen, die fast genau so gut funktionieren. Du wirst trotzdem ein paar Tage zwei Zahnlücken haben.«
Der Zahnarzt holte seine Zange, setzte sie an und holte die Eckzähne heraus. Der Vampir schrie und war plötzlich wehrlos geworden.
»Ich bin in einer Woche wieder da. Bis dahin sollten die neuen Zähne fertig sein. Sonst wird es dir schlecht ergehen.«
Der Zahnarzt nickte und brachte seinen Patienten zur Tür. Als er wieder allein war, ging er in sein Büro, holte ein großes, mit Alkohol gefülltes Glas aus einem Geheimschrank und gab die Zähne hinein. Sie waren nicht die ersten Vampirzähne. Das Glas war fast voll.
»In einer Woche wirst du bereits verdurstet sein.«, sagte er lachend. »Du bist nicht der Erste, den ich perfekt versorgt habe.«
(c) 2021, Marco Wittler
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