1166. Opa fehlen seine Falten

Opa fehlen seine Falten

Patty saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und hatte die Stirn in Falten gelegt. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie einen Zeichenblock vor sich liegen und versuchte, ein Portrait von Opa zu zeichnen. Normalerweise gelangen ihr ihre Bilder wirklich gut. Sie übte ständig und fleißig. Aber mit Gesichtern tat sie sich einfach schwer.
»Ach, verdammt. So langsam verliere ich echt die Lust. Das funktioniert einfach nicht, wie ich mir das vorstelle.«
Patty ließ die Bleistift fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Schaut doch gar nicht so schlecht aus.«, lobte Oma. »Ich finde, du hast ihn gut getroffen. Es sieht ihm sehr ähnlich.«
Sie holte ein altes Fotoalbum aus dem Schrank und blätterte eine Weile darin herum. »Schau dir mal dieses Foto an. Das war Opa als junger Mann. Du hast ihn wirklich gut getroffen.«
Paula seufzte. »Aber genau das ist das Problem. Opa hat Falten im Gesicht. Die bekomme ich nicht gut genug hin, dass sie echt aussehen. Sie wirken auf mich wie wildes Gekritzel.«
Sie packte ihre Sachen zusammen und stand auf. »Ich werde eine Weile in mein Zimmer gehen. Vielleicht verschwindet dann mein Frust und ich kann weiter zeichnen.«
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm den Bleistift erneut zur Hand und hatte auch ihren Radiergummi fest im Blick. Wieder war sie nicht zufrieden mit den Falten.
»Mist! Ich sollte keine alten Leute zeichnen. Dabei kommt nichts Gescheites heraus.«
Ein lautes »Haha« erklang von Draußen.
»Hey, niemand lacht mich aus.«, beschwerte sich Patty. »Auch wenn es gerade nicht klappt, ich gebe mir sehr viel Mühe. Das muss jeder anerkennen.«
Und wieder hörte sie ein »Haha.«
Wütend riss sie ihre Zeichnung vom Block, knüllte sie zusammen und warf die Papierkugel gegen das Fenster. Dann stand sie auf und warf einen Blick nach draußen. Wieder war da dieses laute »Haha«. Und dann sah Patty, von wem es stammte. Auf dem Hausdach gegenüber saß eine Krähe, die laut krächzte, was sich verdächtig nach einem gehässigen Lachen anhörte.
Patty stöhnte genervt. Wegen diesem blöden Vieh hatte sie ihr Bild ruiniert. Sie hob es auf, faltete es vorsichtig auseinander und versuchte, es auf dem Schreibtisch wieder zu glätten. Da begann sie zu grinsen. Die Knitterfalten hatten die Zeichnung perfektioniert. Opa sah nun aus, wie er sollte. Patty musste die Linien nur noch nachzeichnen.
»Kunst findet immer einen Weg.«, sagte sie zu sich selbst.

(c) 2021, Marco Wittler

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