1188. Der große Traum vom Fliegen

Der große Traum vom Fliegen

Roland Regenwurm grub sich durch den Erdboden. Zentimeter für Zentimeter kämpfte er sich vorwärts und schaffte sich so ein kompliziertes und weit verzweigtes Röhrennetz, in dem er leben und seine Nahrungsvorräte unterbringen konnte. Doch irgendwann wurde es Zeit, um mal eine Pause einzulegen. Roland bog nach oben ab und buddelte sich an die Oberfläche.
»Hach, ist das schön hier.«, schwärmte er nicht zum ersten Mal. Er liebte es, draußen an der frischen Luft zu sein. Außerdem gab es ganz viel zu sehen. Da waren Bäume, grün bewachsene Hügel in der Ferne und das Gras der Wiese, unter der er schon sein ganzes Leben verbracht hatte. Doch eines gefiel ihm besonders gut.
»Da sind sie wieder.«, freute sich der Regenwurm. »Dort oben funkeln unendlich viele Sterne nur für mich.« Er begann zu träumen. Er wünschte, sich eines Tages selbst in die Lüfte zu erheben, um die Welt von oben betrachten zu können.
Er seufzte leise und ließ den Kopf hängen. »Das wäre so schön, aber leider wird daraus nie etwas werden. Mir fehlen zum Fliegen die Flügel.«
Roland wollte gerade wieder in die Erde kriechen, da senkte sich ein großer Schatten auf ihn nieder. Ein großes, gefiedertes Tier stürzte sich vom Himmel herab, griff nach dem Wurm und flog mit ihm davon.
»Hilfe!«, schrie Roland in seiner Angst. Warum hilft mir denn niemand? Ein Adler hat mich entführt.« Doch das half nichts. Es konnte ihn niemand hören.
Es ging hoch und immer höher. Die Bäume wurden immer kleiner und glichen bald kleinen Ameisen.
»Wow.«, staunte der Regenwurm. »Dasist so unglaublich. Ich habe schon so lange vom Fliegen geträumt. Dass es aber so unglaublich schön hier oben ist, hätte ich niemals gedacht.«
Auch wenn er schon bald im Magen des Adlers oder in denen seines Nachwuchses enden würde,war Roland für dieses einmalige Erlebnis unendlich dankbar.
Der Adler schraubte sich noch weiter in den Himmel hinauf, kam den Wolken immer näher und drehte mehrere Kreise, bevor er sich langsam wieder zum Boden sinken ließ und schließlich auf der Wiese landete.
»Na, los.«, sagte der Adler. Verschwinde wieder in dein Loch. Ich werde dich nicht fressen.«
»Wie? Was? Warum nicht?« Roland war verwirrt. Was war mit dem Greifvogel los?
»Ich habe noch nie einen Regenwurm erlebt, der sich so für das Fliegen begeistern konnte. Weißt du, ich fliege seit meiner Kindheit und für mich ist es eigentlich ganz normal, das zu können. Aber du hast mir gezeigt, dass es etwas Besonderes ist, die Schönheit der Welt von oben sehen zu können. Vom Himmel aus sieht sie so friedlich aus. Das verdanke ich nur dir.«
Der Adler breitete seine Flügel aus und flog davon. Er drehte noch ein paar weite Kreise um die Wiese, bis er in den Wolken verschwand.

(c) 2022, Marco Wittler


Image by Brigitte is happy … about coffee time :)) from Pixabay

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