1216. Der alte Leuchtturmwärter und die lahme Ente

Der alte Leuchtturmwärter und die lahme Ente

Es war eine besonders ruhige Sommernacht an der Küste gewesen. Keine einzige Wolke hatte den klaren Sternenhimmel verdeckt und kein einziges Lüften war zu spüren gewesen. Der alte Leuchtturmwärter hatte nicht viel zu tun gehabt. Trotzdem war er natürlich mit dem Sonnenaufgang müde geworden und freute sich nun, ein Schläfchen in seiner Hängematte machen zu können, die er sich bereits neben seinem Leuchtturm aufgespannt hatte. Er holte sich sein dickes, weiches Kissen auf dem Bett, ging die Treppe nach unten und öffnete die schwere Eisentür mit einem lauten Quietschen.
»Endlich entspannen.« Ja, das tat er besonders gern. Die Augen geschlossen, die warmen Sonnenstrahlen im bärtigen Gesicht und das Rauschen des Meeres in den Ohren. Etwas Schöneres konnte er sich gar nicht vorstellen.
Aber an Schlaf war dann doch nicht zu denken. Irgendwas oder irgendwer störte ihn auf dem Weg in seine Träume. Er hörte Schritte, die sich langsam und schlurfend näherten.
Der Leuchtturmwärter öffnete die Augen, blinzelte im Sonnenlicht und sah sich um. »Wer ist denn da? Hier oben am Leuchtturm hat niemand etwas zu suchen.«
»Lass dich von mir nicht stören.«, antwortete eine gebrechliche Stimme. »Ich bin nur eine alte Ente, die den anderen beim Flug zuschaut.«
Der Leuchtturmwärter richtete sich auf. Da watschelte tatsächlich eine Ente auf ihn zu. An ihrem lahmen Gang war gut zu erkennen, dass sie schon viele Jahre auf dem Pürzel haben musste.
»Was machst du denn hier?«
Die Ente hob kurz die Flügel ein wenig an, was wohl einem menschlichen Schulterzucken nicht ganz unähnlich war.
»Ich bin alt, ich bin lahm und ich habe nicht mehr die Kraft, den anderen Enten zur Sandbank zu folgen. Ich bleibe einfach hier oben auf dem Deich und schaue ihnen zu, auch wenn ich gern mal wieder dort draußen wäre. Es gibt so leckere Muscheln im Meer, weißt du?«
Ja, das wusste der alte Leuchtturmwärter sogar ganz genau. Manchmal ging er nämlich bei Ebbe ins Watt, sammelte ein paar Muscheln und kochte sie in seiner Küche.
»Und du würdest gern mal wieder mit den anderen Enten speisen?«
Der Leuchtturmwärter kratzte sich an einem langen Bart und überlegte. »Ich glaube, ich habe da eine Idee. Ich werde dafür sorgen, dass du zur Sandbank kommst.«
Er ging in den Turm, holte einige Holzbalken, Seite und Schrauben. Daraus baute er ein großes Gestell.
»Was soll das werden? Willst du mir eine Maschine bauen, die mich durch das Meer trägt?«

Nein, das sollte es gewiss nicht werden. »Ich baue ein Katapult. Das hat man im Mittelalter benutzt, um Steine durch die Luft zu schleudern. Was mit Steinen funktioniert, muss auch mit Enten gehen.«
Er nahm die Ente hoch, setzte sie in einen Korb und spannte die Wurfmaschine. Er versicherte ihr, dass nichts passieren konnte und löste aus. Die Ente wurde in hohem Bogen zur Sandbank geschleudert.
»Wuhuu! Und wie komme ich wieder zurück?«
»Ich werde dich mit meinem Boot abholen, wenn das Wasser wieder steigt.«
Und dann war wieder Ruhe auf dem Deich. Der Leuchtturmwärter legte sich in seine Hängematte und schlief ein paar Minuten später ein.

(c) 2022, Marco Wittler


Image by Jozef Baláž from Pixabay

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