1239. Seid endlich ruhig!

Seid endlich ruhig!

In einem abgelegenen Teil des Waldes, weit weg von jeglicher menschlicher Behausung floss ein Bach durch eine Lichtung und speiste einen kleinen Teich. Dieser Teich war nicht auf natürlichem Weg entstanden. Ein fleißiger Biber hatte ihn mit gefällten Bäumen und gesammelten Ästen an diesem Ort aufgestaut. Über die nächsten Jahre hatten sich immer mehr Tiere auf der Lichtung und dem näheren Umkreis im Wald angesiedelt und sich miteinander angefreundet.
Der Biber lebte noch immer hier. Er genoss das Leben im Wasser. Tagtäglich stand er mit seinem besten Freunde Ente am Ufer. Unter den warmen strahlen der Sonne trainierten sie zusammen. Sie liefen viele Runden um den Teich, machten Liegestütz, Kniebeugen und stemmten dicke Äste wie die Gewichtheber im Fitnessstudio.
»Wir müssen uns fit halten, um gut durch den nächsten Winter zu kommen.«
Gegenseitig machten sie sich Mut, feuerten sich an und gaben sich immer wieder Tipps, wie sie sich noch weiter verbessern konnten. Dabei ging auch nicht immer leise zu. Das Anfeuern musste halt laut sein. Manch ein Tier ließ sich davon anstecken und trainierte einfach mit. Andere fühlten sich von der Lautstärke stark gestört. Eines davon war eine alte Eule, die auf ihrem Baum ihre Ruhe haben wollte. Sie genoss lieber den lieblichen Duft eines nahen Holunderstrauchs.
Der Eule wurde es eines Tages zu bunt. Wieder einmal war der Biber viel zu laut, während er Ente anfeuerte und immer mehr zu Höchstleistungen antrieb.
»Könnt ihr beiden nicht wenigstens einen einzigen Tag in der Woche mit eurem Training aussetzen?«, motzte sie. »Ihr geht mir ganz schön auf den Geist. Ich will doch einfach nur hier sitzen und den Holunderduft genießen. Ist das denn zu viel verlangt? Halte doch einfach mal den Schnabel.«
Der Biber unterbrach das Anfeuern, Ente sein Training. Sie sahen sich an und mussten lachen. Offenbar hatten sie den selben Gedanken. Ente nahm seinen Schnabel ab und drückte ihn dem Biber in die Hand. Der steckte ihn sich ins Gesicht und hielt ihn dort ordnungsgemäß fest.
»Ist das so richtig?«, fragte er die Eule. »Hast du dir das so gedacht mit dem Schnabel halten?« Dann drehte er sich zu seinem Freund um und grinste. »Jetzt schaue ich aus wie ein Schnabeltier. Was du jetzt aber bist, das weiß ich wirklich nicht. Habe ich noch nie gesehen.« Also gab er Ente den Schnabel zurück. Sie setzten ihr Training fort , während die Eule beleidigt davon flog und sich einen anderen Holunderstrauch zum beschnuppern suchte.

(c) 2022, Marco Wittler


Image by Damaris Dharmah from Pixabay

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