1237. Stürmische Zeiten

Stürmische Zeiten

Es hatte alles mit einem lauen Lüftchen begonnen, das sich von allen unbemerkt zu einem Wind entwickelt hatte. Aufmerksam wurde man erst darauf, als es wie ein Sturm alles hinwegfegte, was sich ihm in den Weg gestellt hatte.
Ungefähr so musste man sich die Situation in Marthas Marienkäfergruppe im Kindergarten vorstellen, in der sie als Erzieherin arbeitete.
Schon am frühen Morgen war ein besonders schlecht gelaunter Matteo angekommen, der seinen Rucksack wütend in die Ecke geworfen hatte. Nur wenige Minuten später war Emmi von ihrer Mutter gebracht worden. Auch sie war alles andere als gut drauf gewesen.
In der Zeit danach waren sie sich immer wieder über den Weg gelaufen, hatten sich böse angesehen und gegenseitig beleidigt. Aufgefallen war es aber niemandem. Doch nun, während des Frühstücks, saßen sie sich gegenüber. Wer angefangen hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Aber dafür war der Streit, der gerade stattfand umso lauter.
Alle Kinder am großen Tisch hatten aufgehört zu essen. Sie starrten nur noch auf die beiden Streithähne. Wer von Beiden würde wohl gewinnen? Emmi und Matteo beschimpften und beleidigten sich gegenseitig. Keiner von beiden wollte nachgeben. Und dann griff Matteo in seine Frühstücksdose, holte eine der Tomaten heraus und warf sie Emmi ins Gesicht. Sie verstummte, wollte nicht glauben, was ihr da gerade passiert war. Sie sah an sich herab, folgte dem Tomatenmatsch, wie er auf ihren Pullover tropfte und langsam daran herunterlief. Sie hob ihren Blick. Ihre Augen verfinsterten sich. Sie griff langsam zu ihrem Marmeladenbrot, klappte es auseinander und warf ebenfalls. Doch es sollte sein Ziel niemals erreichen.
»Stopp!«, rief Martha. Die Erzieherin ging zwischen die Kinder, fing das Brötchen aus der Luft und sah beide nacheinander an. »Ihr kommt jetzt mit. Wir versuchen das friedlich zu lösen.«
Zu dritt gingen sie in eine andere Ecke des Raums, wo sie ungestört reden konnte. Martha öffnete eine Schranktür und holte das rot und eiß gestreite Streittuch heraus, das sie sich immer in diesen Situationen über die Schultern legte. Nun sah sie aus wie ein lebendiger Leuchtturm, was auch genau so geplant war. Sie wollte die streitenden Kinder sicher durch das folgende Gespräch lotsen. Dazu kamen noch zwei Teddybären mit Seemannsmützen auf den Köpfen, die sie Emmi und Matteo gab, und sie als Mutmacher unterstützen sollten.
»Ich weiß, dass ihr beide sauer aufeinander seit und wahrscheinlich nicht mal mehr wisst, wer angefangen hat. Das kann ich verstehen. Wenn ich früher mit meinem Bruder gestritten habe, war das auch immer so.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen sah sie zuerst zu Emmi, dann zu Matteo. »Ihr seid doch Freunde. Ihr spielt jeden Tag miteinander, lacht und habt viel Spaß, wenn ihr hier seid. Deswegen bin ich mir ganz sicher, dass ihr ganz andere Gründe habt, warum ihr jetzt aufeinander los geht.«
Beide Kinder sahen verlegen zu Boden, bis Emmi seufzte und zu erzählen begann. »Ich habe fast die ganze Nacht nicht schlafen können, weil der Mond in mein Zimmer geleuchtet hat. Und jetzt bin ich sauer auf ihn und auch noch hundemüde. Ich wollte eigentlich gar nicht streiten. Es tut mir leid!«

Matteo nickte. »Mein Papa hat mir die falsche Marmelade auf mein Brot geschmiert. Ich kann Pflaumen nicht leiden. Er sollte eigentlich wissen, dass ich nur Erdbeer mag. Ich habe mich aber nicht getraut, es ihm zu sagen, weil er sehr in Eile war. Mir tut es auch leid. Du kannst nichts dazu, dass ich sauer bin.«
»Seht ihr? Wenn man einfach miteinander über seine Probleme redet, dann gibt es auch keinen unnötigen Streit und bleibt befreundet. Gebt euch doch einfach die Hand. Dann ist alles vergeben und vergessen.«, schlug Martha vor. Sie taten es. Und dann sprang Emmi auf.
»Darf ich kurz an meinen Platz gehen? Ich habe eine Idee.« Sie lief zum großen Tisch, holte ihre Brotdose und hielt sie Matteo hin. »Ich habe noch ein Brötchen mit Erdbeermarmelade übrig, das möchte ich dir schenken. Für meinen besten Freund mache ich das gern.«
Martha atmete auf. Der Kindergartenfrieden war wieder gesichert. Sie konnte das Leuchtturmtuch wiederablegen und zusammen mit den Teddys für den nächsten Streit im Schrank verstauen.

(c) 2022, Marco Wittler

Diese wunderschöne Illustration stammt von Freu-lein Edelholtz von Twitter. Von ihr gibt es dort noch sehr viel mehr Bilder, die sich anzuschauen lohnen. Klick dich doch mal bei ihr rein.

 

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