126. Das Zauberamulett

Das Zauberamulett

Der kleine Löwe Leonhard saß in der Schule und brütete über einer Klassenarbeit. Die Rechenaufgaben waren so kompliziert, dass er es richtig schwer hatte, sie zu lösen.
»Ich kann das einfach nicht. Dafür bin ich viel zu dumm.«, murmelte er die ganze Zeit vor sich hin.
Bei ein paar verstohlenen Blicken nach links, rechts, vorn und hinten, sah er, dass die anderen Schüler ziemlich flink die Ergebnisse auf ihre Blätter schrieben.
»Auch das noch. Ich werde bestimmt wieder als einziger eine schlechte Note bekommen.«
Leonhard war niedergeschlagen. Als die Schulglocke ertönte, packte er seine Sachen in den Schulranzen, gab seinen Zettel beim Lehrer ab und schlurfte traurig nach Hause.
Auf dem Weg durch die Stadt wurde der kleine Löwe von den anderen Kindern nach und nach überholt. Sie lachten, waren glücklich und machten viele Späße.
»Die haben ja auch nicht immer so ein Pech wie ich. Wie gern würde ich für einen Tag mit ihnen tauschen. Ich will auch einmal einen guten Tag erleben.«

Der nächste Tag war wie alle anderen auch. Leonhard quälte sich am Morgen aus dem Bett und ging, wenn auch ungern, zur Schule. Heute stand Sport auf dem Stundenplan. Nachdem sich die Kinder umgezogen hatten, ging es in die große Turnhalle.
Guido Giraffe hing an den Ringen und schaukelte wie wild durch die Gegend. Die Springbockzwillinge Nina und Lina hüpften über die Schwebebalken, als wenn es nur ein paar Zentimeter hoch wären. Und Olli, der dicke Elefant, schob die dicken, schweren Polstermatten durch die Gegend. Sogar Lukas Leopard Hans Hase jagten wie wild durch die Gegend. Es sah beinahe so aus, als für der kleine Nager die große Raubkatze fressen wollen. Aber zum Glück wussten alle, dass es nur ein harmloses Spiel war, denn man erzählte sich, dass Hasen ziemlich gefährlich werden könnten. Aber gesehen hatte es noch niemand.
Der einzige, der auf einer Bank saß, war Leonhard.
»Was ist denn los? Hast du heute keine Lust auf Sport?«, fragte die Lehrerin Frau Strauß.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich traue mich einfach nicht. Es sieht alles so unheimlich gefährlich aus. Ich könnte von den Ringen abrutschen und mir ein Bein brechen oder beim Springen gegen den Schwebebalken prallen. Das wird garantiert ziemlich weh tun. Mit Olli kann ich gar nicht mithalten. Außerdem traue ich mich nicht, mich von Hans jagen zu lassen. Was wäre, wenn er auf einmal die Beherrschung verliert und mir ein Bein abbeißt? Das kann ich doch alles nicht riskieren. Da bleibe ich lieber hier auf meiner Bank und schaue den anderen zu. Das ist viel sicherer.«
Frau Strauß wusste nicht, was sie machen sollte. Es war jede Woche das Gleiche. Leonhard saß traurig da und sah den anderen zu. Da musste einfach etwas unternommen werden. Während sie wieder zu den anderen Kindern ging, überlegte sie fieberhaft an einer Lösung.

Nach ein paar Stunden schlurfte Leonhard wieder nach Hause. Dabei war er so langsam, dass seine Mitschüler bereits mit dem Mittagessen fertig waren, als er gerade durch die Eingangstür seines Hauses ging.
»Du bist heute aber wirklich sehr spät dran.«, mahnte ihn die Mutter.
»War es denn heute so schlimm?«
Leonhard setzte sich an den Tisch und begann zu essen, während er leise ein paar verzweifelte Worte vor sich hin flüsterte.
»Frag lieber nicht. Am liebsten würde ich mein Zimmer nie wieder verlassen.«

Etwas später am Nachmittag saß der kleine Löwe in seinem Zimmer und versuchte, seine Hausaufgaben zu lösen. Rechnen war schwierig, Die Rechtschreibübung schwieriger und Sachkunde kaum noch lösbar. Hätte er in diesem Moment vielleicht aus dem Fenster gesehen, hätte er Frau Strauß entdeckt, die sich gerade von der Löwenoma verabschiedete.
Nach ein paar Minuten klopfte es an Leonhards Zimmer und eine alte Stimme bat darum, herein kommen zu dürfen.
»Klar, komm rein, Oma. Ich schaffe meine Hausaufgaben eh nicht. Die sind viel zu schwierig für mich.«
Die alte Löwin trat ein, setzte sich auf das Bett und nahm ihren Enkel auf den Schoß.
»Dann erzähl mir doch mal, was dich bedrückt.«
Der kleine Löwe berichtete ihr von den schwierigen Aufgaben in der Klassenarbeit und den Hausaufgaben. Als er schließlich von seiner Angst vor der Schule und dem gefährlichen Sportunterricht berichtete, begann er dicke Krokodilstränen zu weinen. Oma hörte geduldig zu und tröstete ihren Enkel.
»Ich habe da eine Idee. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«
Sie stand auf, verließ das Zimmer, um ein kleines Ledersäckchen zu holen. Dieses drückte sie Leonhard in die Pfote.
»Das ist ein uraltes Amulett von meiner Urgroßmutter. Sie gab es vor langer Zeit an ihre Tochter weiter. Und so kam von einer Generation zur anderen und nun schließlich zu dir.«
»Was ist denn ein Amulett?«, wollte der kleine Löwe wissen.
»Es ist ein Anhänger. Du hängst ihn dir um den Hals. Er wird dir Glück bringen und dir in allen Gefahren beistehen.«
Leonhard bekam große Augen, als er den Beutel langsam öffnete. Er holte das Amulett hervor und legte es sich um den Hals.
»Und nun werde ich immer Glück haben?«
Oma nickte.

Ein neuer Tag begann. Leonhard konnte es diesmal kaum erwarten, endlich aufzustehen. Er flitzte schneller als alle anderen Kinder in die Schule.
Die erste Stunde verbrachten sie zusammen mit Herrn Maulwurf. Er kontrollierte mit seiner dicken Brille die Hausaufgaben und war sehr erstaunt, als er die vielen richtigen Ergebnisse im Heft des kleinen Löwen entdeckte.
»Was ist denn das?«, fragte er und blinzelte mit verkniffenen Augen über seine Brille hinweg.
»Du hast mehr Ergebnisse richtig als alle anderen hier. Wirklich sehr gut.«
Leonhard konnte es gar nicht glauben, aber das Amulett schien zu funktionieren.
Etwas später gingen die Kinder wieder in die Turnhalle. Frau Strauß wartete bereits auf sie. Guido Giraffe hangelte sie sofort wieder an den Ringen hoch, Olli Elefant schob die dicke Matte darunter, während die Springbockzwillinge sich auf dem Trampolin vergnügten. Der Hase jagte wieder einmal den Leoparden von einer Ecke in die nächste. Alle hatten ihren Spaß. Also achteten sie auch nicht darauf, als der kleine Löwe plötzlich von seiner Bank aufstand und langsam durch die Halle lief. Er sah sich jedes Sportgerät genau an, bevor er die Giraffe ansprach.
»Darf ich das auch mal ausprobieren?«
Guido war so überrascht, dass er von den Ringen abrutschte und auf der dicken Matte landete. Leonhard half ihm hoch und zog sich dann selber an den Ringen nach oben. Zuerst blieb er nur hängen, doch nach wenigen Augenblicken war es sich so sicher, dass er zu Schaukeln begann.
Die anderen Kinder unterbrachen ihre Aktivitäten und sahen ihm zu. Das war neu, so etwas hatten sie nie vom kleinen Löwen erwartet. Was war nur mit ihm geschehen?
Leonhard wurde von Minute zu Minute mutiger. Auf einmal öffnete er die Pfoten und sprang auf die dicke Matte.
»Los, Olli, schieb mich durch die Halle.«
Das ließ sich der Elefant nicht zweimal sagen. Er senkte seinen Kopf und schob so schnell er konnte. Kurz bevor sie gegen den Schwebebalken stießen, sprang Leonhard elegant darüber hinweg und landete sicher auf der anderen Seite.
Nun konnte er es kaum noch erwarten und lief zu Hans.
»Jetzt bin ich dran, Hase. Jag mich durch die Halle und versuch mich zu fangen.«
Doch in diesem Moment bemerkte der kleine Löwe, dass er sein Amulett verloren hatte. Noch vor einer Minute war es noch da gewesen. Aber nun war es einfach verschwunden.
Sofort begann er verzweifelt zu suchen, während Hans schon mit der Jagd beginnen wollte. Leonhard war aber nun doch zu ängstlich. Ohne das Amulett würde ihn der Hase bestimmt fangen und ihm dann ein Bein abbeißen. Das durfte er auf keinen Fall riskieren.
Schließlich kam Frau Strauß hinzu.
»Mach dir nichts daraus. Es war doch nur ein Amulett. Denn alles, was du heute geschafft hast, kam aus dir heraus. Das Amulett brachte ich gestern deiner Oma. Es sollte dir zeigen, dass viel mehr in dir steckt, als du denkst. Und wie du siehst, hat es bestens funktioniert. Also denk nicht weiter darüber nach und mach einfach weiter.«
Der kleine Löwe war überrascht. Dennoch war er weiterhin unsicher.
»Na los, lass und fangen spielen.«, rief der Hase.
Die anderen Kinder standen nun aufmunternd im Kreis um Leonhard herum und feuerten ihn an. Er hatte keine andere Wahl mehr. Er konnte seine Mitschüler schließlich nicht enttäuschen.
Mit einem großen Sprung begann er plötzlich seine gespielte Flucht und lief an den Wänden der Halle entlang. Hans setzte ihm nach und holte langsam auf. Als sie beide auf gleicher Höhe waren, stürzte sich Leonhard auf den Hasen und fing ihn ein.
Die ganze Klasse jubelte vor Begeisterung. Der kleine Löwe schüttelte Hans die Pfote und bedankte sich für das lustige Spiel. Von nun an würde er nie wieder so große Angst haben, das schwor er sich.

(c) 2008, Marco Wittler

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