127. Das Wettrennen

Das Wettrennen

Stefan stand am Fenster und starrte wie gebannt auf die Straße. In ein paar Minuten musste es so weit sein. Papa würde mit dem Auto vor dem Haus parken und ihn abholen.
Seit einem Jahr waren Stefans Eltern geschieden. Papa hatte eine neue Freundin und Mama einen neuen Freund. Die meiste Zeit lebte er nun bei Mama, aber jedes zweite Wochenende holte Papa ihn ab, damit sie gemeinsam etwas unternehmen konnten.
Gleich würde Papa um die Ecke biegen. Was würden sie wohl heute dieses Mal machen? Stefan hatte es sich schon ganz genau überlegt. Sie würden gemeinsam den Gehsteig entlang rennen, einmal um die Wette. Der Gewinner würde das Abendessen bestimmen. Leckere Pizza vom besten Italiener der Stadt. Papa konnte gar nicht gewinnen, denn Stefan war der schnellste Junge der Schule.
Ein paar Bremsen quietschten und ein Wagen hielt an. Die Tür öffnete sich und Papa stieg aus. Stefan sah sich schnell um, fand seine Laufschuhe und zog sie schnell an, bevor er die Treppe hinunter sprang.
»Papa, ist da.«, rief er, als er an Mama vorbei kam.
»Das wurde ja auch Zeit. Er ist doch sonst nicht so unpünktlich.«, antwortete sie.
Gemeinsam öffneten sie die Tür. Papa hatte gar keine Chance die Türklingel zu bedienen.
»Es tut mir leid.«, entschuldigte er sich.
»Ich musste Überstunden machen. Der Chef hatte noch ein paar Extraaufgaben für mich. Vorher durfte ich nicht gehen.«
Mama drückte ihm eine Reisetasche in die Hand und klopfte ihm auf die Schulter.
»Schon in Ordnung. Das kann ja mal passieren. Pass gut auf unsern Sohn auf.«
Dann hielt sie kurz inne, dachte einen Moment nach und verbesserte sich dann schließlich.
»Pass lieber auf dich auf. Ich glaube, er hat schon wieder etwas mit dir vor.«
Papa zuckte nur mit den Schultern und ging, nachdem sie sich verabschiedet hatten, mit Stefan zum Auto. Er verstaute die Tasche und wollte sich gerade ins Auto setzen, als Stefan seinen Plan umsetzte.
»Los, Papa. Lass uns um die Wette laufen. Vom Auto bis zur Straßenecke und zurück. Wer zuerst wieder hier ist, hat gewonnen und darf bestimmen, was es zum Abendessen gibt. Ich habe großen Hunger auf eine leckere Pizza.«
»Muss das sein? Ich hab doch heute so schwer geschuftet bei der Arbeit. Ich möchte mich einfach nur noch ausruhen und die Füße hoch legen.«
Aber Stefan ließ keine Ausreden gelten. Es war doch ihr gemeinsames Wochenende. Da mussten sie so viel Spaß haben und so viel unternehmen, wie es nur ging.
»Also gut. Aufstellung. Du sagst, wenn es los geht.«
Papa hatte sich überreden lassen. Ohne Vorwarnung brüllte Stefan plötzlich.
»Los!«
Er rannte wie ein geölter Blitz den Gehsteig entlang. Der Wind blies ihm ins Gesicht und verwuschelte seine Haare. Doch dann hörte er ein seltsames Geräusch hinter sich. Er bleib stehen und sah sich um.
»Warte, ich kann nicht.«, stöhnte Papa, der verkrümmt vor dem Auto lag.
Stefan lief sofort zurück, um zu schauen, was nicht in Ordnung war.
»Ich glaube, ich bin viel zu kraftlos, um noch ein Rennen gegen dich zu laufen.«, sagte Papa niedergeschlagen.
»Gegen den schnellsten Jungen in der ganzen Straße hätte ich eh keine Chance.«
Langsam stand er wieder auf und öffnete seinem Sohn die Tür zum Auto. Doch als Stefan gerade in seinen Kindersitz zu klettern, brüllte Papa plötzlich.
»Reingelegt. Los!«
Mit großen Schritten lief er auf die Straßenecke zu. Stefan war nun auch wieder vom Ehrgeiz gepackt und versuchte ihn einzuholen. Aber leider wurde er heute nur noch Zweiter.
»Das war aber eine ganz schön fiese Nummer.«, beschwerte er sich, während er in das Auto stieg.
Papa zuckte nur mit den Schultern und grinste.
»Pizza bekommst du aber trotzdem. Versprochen.«

Zwei Wochen später saß Stefan wieder am Fenster. Wo blieb denn Papa? Musste er schon wieder so lange arbeiten? Eine halbe Stunde war er nun schon überfällig. Das war richtig gemein. Dabei hatte sich Stefan schon wieder viele Sachen für das Wochenende überlegt. Als erstes wollte er gegen Papa ein Wettrennen machen. Das Auto war Start und Ziel, einmal bis zur Straßenecke und zurück. Doch diesmal würde Papa keine fiesen Tricks benutzen.
Ein Auto fuhr vor und hielt an. Doch diesmal war es ein Taxi, aus dem Papa nur mühsam heraus kam. Er hatte einen Fuß eingegipst und stützte sich auf eine Krücke. Nur humpelnd kam er an die Haustür, wo ihn Mama und Stefan mitleidig empfingen.
»Tut mir leid, mein Sohn. Mit dem Wettrennen wird das heute nichts mehr. Ich habe mir den Fuß gebrochen.«
Stefan war enttäuscht. Er brachte seine Tasche zum Taxi und sah zu, wie Papa hinter ihm her kam. Doch plötzlich war dieser seine Krücke weg, zog den Gips vom Fuß und brüllte.
»Reingelegt. Los!«
Wie der Blitz rannte er auf die Straßenecke zu. Stefan traute seinen Augen kaum. Wieder ein gemeiner Trick. Doch diesmal war er vorbereitet. Er stieg schnell auf dem Taxi aus, pfiff zweimal ganz laut auf seinen Fingern und lief Papa hinterher.
Papa kam ganz gut voran. Er hatte die Hälfte der Strecke schon hinter sich, als völlig unerwartet ein kleiner Junge mit seinem Dreirad aus einer Haustür heraus kam. Fast hätte es einen Zusammenstoß gegeben. Papa blieb stehen und half dem Kind über den Gehsteig, bevor er weiter lief. Doch ein Haus weiter wartete bereits die nächste Überraschung. Ein Mädchen kam mit einem Hund nach draußen. Papa verfing sich in der Leine und fiel auf den Boden. Während er wieder aufstand, lief plötzlich Stefan freudig strahlend an ihm vorbei.
»Na warte. Das Rennen ist noch nicht vorbei.«, rief Papa und rannte los.
An der Straßenecke hatte er seinen Sohn eingeholt, stieß dort aber sehr unglücklich mit einem Pizzalieferanten zusammen und stürzte erneut. Nun konnte er Stefan nur noch dabei zuschauen, wie dieser glücklich ins Ziel lief.
»Das macht dann fünf Euro und achtzig Cent, der Herr.«
Papa sah den Mann verwirrt an.
»Für die Pizza, die ihr Sohn bestellt hat. Wofür denn sonst?«
Jetzt wurde ihm alles klar und er verstand, dass er dieses Mal selber herein gelegt worden war.
Als er mit der Pizza zum Taxi kam grinste er über das ganze Gesicht.
»Herzlichen Glückwunsch, Sohn. Ich glaube, das Essen hast du dir wirklich verdient.«

(c) 2008, Marco Wittler

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