1392. Wo bleibt der Regen?

Wo bleibt der Regen?

Es war heißer Sommerabend. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet und die Sonne schien ohne Pause vom Morgen bis zu ihrem Untergang. Nicht einmal Wolken hatte man in der ganzen Zeit zu Gesicht bekommen.
»Möchtest du dich wirklich nicht umziehen?«, fragte Mama ihre Tochter. »Mit so vielen Klamotten würde ich bestimmt in meinem eigenen Schweiß ertrinken.«
Pauline verdrehte die Augen. »Mama, was soll das? Ich stinke doch nicht. Ich gehe jeden Tag duschen.« Sie sah an sich herab. Mit ihrem rot-weiß gestreiften T-Shirt steckte sie in einer blauen Latzhose, die bis zu den Knöcheln reichte. Andere Klamotten wären ihr niemals in den Sinn gekommen. Es gab auch kaum etwas anderes in Paulines Kleiderschrank. Die wenigen Sachen, die anders waren, hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr angerührt.
Das einzige, was Pauline gerade zu warm war, hing an ihrem Kopf. Ihre langen, roten Haare waren zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zum Po reichte. Darunter kam sie dann doch ins Schwitzen.
»Das weiß ich doch. Ich weiß auch, wie gern du deine Latzhose trägst. Ich wollte nur damit sagen, dass sie für mich zu warm wäre.«
Pauline seufzte. »Ich geh dann mal in die Dusche.« Sie erhob sich von ihrem gemütlichen Liegestuhl und ging zum Haus. Unterwegs fiel ihr Blick auf das Beet, das sie vor ein paar Wochen bepflanzt hatte. Die Blumen darin waren mickrig, verkümmert und drohten zu vertrocknen.
»Was mache ich nur mit euch? Wenn es nicht bald regnet, werdet ihr sterben.«

Etwas später entschloss sich auch Mama ins Haus zu gehen. Es wurde ihr zu dunkel. Sie konnte die die Buchstaben in ihrem Buch kaum noch erkennen. Auf dem Weg ins Haus fiel ihr Blick zufällig auf Paulines Beet. Die Pflanzen waren verschwunden, die Erde frisch umgegraben. Was war hier passiert?
»Pauline?«, rief Mama zum Fenster über sich und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Bad.
Pauline stand in der Dusche und brauste sich kräftig ab. Um sich herum standen mehrere kleine Blumentöpfe, auf die sie immer wieder den Wasserstrahl richtete.
Was machst du denn da?«, fragte Mama.
»Wenn es draußen nicht regnet, dann bringe ich meine Blümchen eben ins Haus und verschaffe ihnen künstlichen Regen.«

(c) 2022, Marco Wittler

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