1403. Geisterhafte Brandung

Geisterhafte Brandung

Roselotte Brombeergeist war es im Geisterwald yu langweilig geworden. Mittlerweile kannte das kleine Geistermädchen dort jeden Strauch, jeden Baum, selbst das kleinste Insekt beim Vornamen. Es gab hier einfach nichts mehr zu entdecken. Sie wollte einfach mehr sehen, neue Geschichten hören und Abenteuer erleben.
»Ich muss den Wald verlassen. Ich muss in die weiter Welt hinaus.«
Die anderen Geister des Waldes nahmen diese Nachricht nur mit einem lauten Zähneknirschen auf. »Geister sollten den Wald nicht verlassen. Dort draußen gibt es gefährliche Begegnungen mit den Menschen und viele andere Gefahren, von denen kein Geist bisher gehört hat. Noch nie ist einer unserer Art von diesen Ausflügen zurückgekehrt. Man munkelt, dass sie verstorben sind.«
Roselotte wollte gar nicht mehr hören. Die anderen wollten ihr das große Abenteuer nur madig machen. Sie würde trotzdem den Wald verlassen und ihr Glück suchen. Sie zog sich von den anderen Geistern zurück, packte ein kleines Bündel Habseligkeiten und machte sich auf den Weg. Sie wollte so weit wandern, wie sie ihre Füße tragen würden.
Füße. Roselotte lachte. Die anderen Geister, die keine besaßen, konnten sich nicht vorstellen, was es für ein Gefühl war, sich selbst durch die Welt zu bewegen. In den Augen des kleinen Geistermädchen hatte es so manchen Vorteil, wenn man kein richtig ausgereifter Geist war. Ein Handicap konnte auch eine Chance sein. Roselotte jedenfalls war froh darüber, den Waldboden und jede Unebenheit von ihm bei ihren Schritten spüren zu können.
Nach ein paar Stunden Fußmarsch hatte Roselotte den Rand des Waldes erreicht. Vor sich sah sie eine weite Ebene mit hohen Gräsern.
»Das sieht ja fast so aus wie bei uns Zuhause. Aber diese Lichtung ist sehr viel größer.« Doch schnell stellte das Geistermädchen fest, dass es keine Lichtung war, denn es gab keine Bäume auf der anderen Seite. Stattdessen lag vor ihr etwas Großes, Riesiges.
»Eine mega Pfütze.«
Schon wollte sie hinein springen, das Wasser in alle Richtungen davon spritzen lassen, als sie eine warnende Stimme vernahm.
»Weg vom Wasser!«, rief ein Mann. »Ein kräftiger Sturm zieht auf. Es wird hohe Wellen geben. Wer sich hier jetzt noch aufhält, riskiert sein Leben.«
Roselotte sah sich um. Sturm? Es war nicht mal ein laues Lüftchen zu spüren. Doch dann entdeckte sie die düsteren Wolken am fernen Horizont. Dort schien sich tatsächlich etwas zusammenzubrauen.
»Wer bist du?«, fragte sie den Mann, der ein paar Meter abseits oben auf einem rot und weiß gestreiften Turm stand. »Warum kennst du dich so gut mit dem Wasser hier aus?«
Der Mann winkte das Geistermädchen zu sich. »Ich bin der alte Leuchtturmwärter. Meine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass in der Nacht und bei großen Unwettern das Licht des Turms auf das Meer hinaus leuchtet. Es weißt den Schiffen den Weg in den nächsten sicheren Hafen.«
Das klang ganz schön aufregend, auch wenn sich Roselotte nicht viel darunter vorstellen konnte. »Mein Name ist Roselotte Brombeergeist. Du darfst mich aber Lotti nennen. Was sind Schiffe? Was ist das Meer? Davon habe ich noch nie gehört.«
Der Alte verließ seinen Balkon und tauchte Sekunden später an der Eingangstür wieder auf. Er bat das Geistermädchen herein. »Lotti also. Was bist du? Ein Geist? Ich habe schon von eurer Art gehört, aber nie einen gesehen.« Er sah an ihr herab. »Hm, nein, kein Geist. Du hast Füße.«
Lotti seufzte und nickte. »Ich bin ein besonderer Geist. Ich gehöre zu den ganz wenigen, die Füße haben.«
Sie betrat staunend den Lechtturm und ging Stufe für Stufe nach oben. Sie umrundete die große Leuchte, stellte viele Fragen, bis sie selbst auf dem Balkon stand. Von hier konnte man das ganze Meer und die vielen kleinen Schiffe darauf betrachten. »Ich hätte nie gedacht, dass es so viel Wasser an einem Fleck geben könnte. Aus meinem Wald kenne ich nur Pfützen, einen schmalen Bach und den Fischteich am anderen Ende.«
Der Leuchtturmwärter zeigte mit der Hand zum Himmel. »Die dunklen Wolken sind ein ganzes Stück näher gekommen. Es wird nur noch ein paar Minuten dauern, bis das Unwetter beginnt. Starke Winde werden riesige Wellen gegen die Küste werfen, Blitze zucken dann hernieder, die von so lautem Donnergrollen begleitet werden, dass einem beinahe die Ohren abfallen. Ich muss mich jetzt um das Licht kümmern, damit die Schiffe rechtzeitig in Sicherheit kommen.«
Der Leuchtturmwärter ging ins Innere und entzündete die Leuchte.
»Warum warnt man nur vor dem Unwetter? Warum lässt man es ungebremst auf die Küste krachen?« Lotti hielt das für viel zu gefährlich. Es würden bestimmt Lebewesen zu schaden kommen. »Ob man die Wellen nicht einfach aufhalten kann?«
Das Geistermädchen ging in den Leuchtturm und sah sich um. In einem Raum fand es die Werkstatt, an deren Wand ein großer Hammer hing. »Damit kann man doch bestimmt etwas gegen das Unwetter unternehmen.«
Lotti nahm das schwere Werkzeug und brachte es nach draußen. Mittlerweile fegte ein kräftiger Wind vom Meer herüber, der sekündlich stärker zu werden schien. Erste Wellen klatschten gegen das Land und spritzen in alle Richtungen davon. Auf ihrem Weg zurück ins Meer rissen sie Teile des Strandes mit sich.
»Das habe ich mir aber nicht so schlimm vorgestellt.« Lotti fröstelte. Hatte sie tatsächlich die richtige Idee gehabt?
Mutig hob sie den Hammer, lief der nächsten Welle entgegen und schlug zu. Das Wasser zerbarst. Es blieb ihm keine Chance, das Land weiter zu verwüsten.
»Es klappt!«, war Lotti begeistert. Ich kann es aufhalten.«
Der Leuchtturmwärter wollte erst nicht glauben, was er von seinem Aussichtsbalkon sah. Doch dann begriff er, was da gerade geschah. Das Geistermädchen hielt das Unwetter von der Küste fern.
Sofort besorgte er sich einen zweiten Hammer und verließ ebenfalls den Leuchtturm. Nun standen sie Seite an Seite und hielten die ganze Nacht lang die Wellen in Schach. Erst zum Morgengrauen flachte der Sturm ab. Dieses Mal hatte er dem Land nur wenig Schaden zufügen können.
»Du bist grandios, Lotti.«, lobte er.
»Vielen Dank.«, sagte Lotti. Sie freute sich schon sehr, nun bei gutem Wetter das Meer genießen zu können und dabei die Geschichten des Leuchtturmwärters zu hören.

(c) 2022, Marco Wittler

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