1528. Eiskalter Herbst

Eiskalter Herbst

Der kleine Geist blickte aus dem Fenster der alten Burgruine. Endlich war der Sommer vorbei. Endlich konnte er sich wieder nach draußen wagen, ohne sofort in der Hitze zu zerschmelzen.
»Sonne und Sommer sind so gar nicht meins. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich vor ein paar Jahren als Pfütze endete und bis zum Einbruch der Nacht warten musste, um wieder ganz zu werden. Das will ich kein zweites Mal erleben.« Er wartete seitdem immer sehnsüchtig auf den Herbst.
Der kleine Geist wusste auch ganz genau, was er nun alles unternehmen wollte. »Ich werde Kastanienmännchen bauen, ich will die bunt gefärbten Bäume Bäume bestaunen, in Laubhaufen springen und mit den Igeln darin verstecken spielen. Das wird die beste Zeit des Jahres.«
Er schwebte auf die Wand zu, durch sie hindurch und begann im nächsten Augenblick zu frösteln. »Huch. Was ist denn das? Es ist so schrecklich kalt.«
Dem Geist fror das dünne Laken seines schlanken Körpers ein. Er fiel zu Boden und rutschte den Abhang herunter, der die Burg umgab. Es hatte geschneit, gefroren und war glatt.
»Mist! Verdammt!« Es war kaum möglich, wieder hochzukommen, ohne erneut auszurutschen. Da fiel dem Geist sogar das Schweben schwer. Nur mit Mühe und Not erreichte er das Innere der Burg, wo er sich wieder sicher fühlte.
»Wie kann es denn jetzt schon so kalt sein? Es ist erst Ende Oktober.« Trotzdem hatte sich das Wetter für Schnee und winterliche Temperaturen entschieden.
»Ich muss mir was einfallen lassen, sonst sitze ich den restlichen Herbst und bis zum nächsten Frühling hier fest. Und dann beginnt auch schon wieder der nächste heiße Sommer. Es ist zum aus dem Laken fahren.«
Der kleine Geist sah sich um. Mehr als leere Schränke, verstaubte Sessel und Spinnweben in allen Ecken und an allen Deckenbalken waren nicht zu finden.
»Spinnweben?« Er dachte nach. »Spinnweben. Das ist die Idee.«
Der Geist schwebte von Ecke zu Ecke, suchte und fand eine kleine Spinne. »Magst du mir vielleicht helfen? Ich brauche ein paar ganz besondere Kleidungsstücke für den Winter, der viel zu früh gekommen ist.«
Die Spinne war sofort begeistert. Sie war es eigentlich gewohnt, dass man sie mit Besen bekämpfte oder aus Fenstern warf. Einmal jemandem helfen zu können, war ein tolles Gefühl.
Sie ließ sich an einem Spinnenfaden herab, wuselte immer wieder um den kleinen Geist herum, bis sie Handschuhe, Schal, Mütze und Winterschuhe gestrickt hatte. »Darin wirst du nicht mehr frieren und nie wieder ausrutschen.«
Der Geist grinste. Das konnte er sich gut vorstellen. Er wusste, wie klebrig Spinnennetze waren. Er bedankte sich und nahm die kleine Spinne auf seine Schulter. Gemeinsam schwebten sie nach draußen, landeten vorsichtig auf dem glatten Abhang und blieben einfach stehen. Dem Geist rutschten die Füße keinen Millimeter weg.
»Das ist eine mega tolle Idee gewesen. Jetzt können wir gemeinsam die glitzernde Winterwelt erobern und bestaunen.«
Sie machten sich auf den Weg und verschwanden in einem traumhaft verschneiten Wald.

(c) 2023, Marco Wittler

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