Pauls Erinnerungen
Paul hatte es sich in seinem Gartenstuhl gemütlich gemacht. Dieser Abend war ganz besonders schön. Er war warm, nicht zu heiß und besaß einen fast wolkenlosen Himmel, der sich gerade orange färbte.
»Ist das nicht herrlich?« Paul griff zu seiner Trinkflasche, nahm einen Schluck und ließ seine Füße wieder ins Planschbecken baumeln. »Es wäre so toll, wenn ich diesen Augenblick für später einpacken und konservieren könnte. Dann könnte ich ihn jederzeit genießen, wenn es kalt, regnerisch und schmuddelig draußen ist.« Er seufzte leise, lehnte sich zurück und genoss wieder das prächtige Farbenspiel, das gerade über ihm stattfand.
Und dann sprang Paul plötzlich auf. »Das ist es. So wird es funktionieren. Ich werde ein Stück des Sonnenuntergangs für später einpacken.«
Er lief ins Haus, machte sich auf den Weg in den Keller und kramte im Schrank, in dem Mama die Küchenutensilien aufbewahrte, die sie vom Oma geerbt hatte, aber nicht nutzte. Paul fand ein kleines Einmachglas samt Deckel. »Passt perfekt. Damit müsste es gehen.«
Mit seinem Fund flitzte Paul zurück in den Garten. Er stellte sich auf seinen Stuhl, hob das Einmachglas so hoch zum Himmel, wie er nur konnte und sah dabei zu, wie sich das Licht der untergehenden Sonne darin spiegelte und brach. Nach ein paar Minuten nahm er den Arm wieder herunter und schloss den Deckel.
»Was soll das denn werden?«, ertönte plötzlich eine Stimme vom Nachbargrundstück. »Hast du wieder so eine bekloppte Idee, mit der du immer alle nervst und die eh nicht funktioniert?« Es war Finn, ein Mitschüler von Paul, der ihn immer ärgerte.
Zuerst wollte Paul mit seinem Einmachglas ins Haus verschwinden, damit er sich nicht wieder erklären musste. Doch dann entschied er sich anders.
»Ich habe einen ganz besonderen Moment eingefangen. Hier drin steckt ein kleines Stück des Sonnenuntergangs, damit ich mich auch im Winter daran erfreuen kann, wenn dicke Wolken am Himmel hängen.«
Finn machte große Augen. »Jetzt ehrlich? Das geht?«
Paul war erstaunt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Finn ihm glauben würde. Doch dann begann der andere zu lachen. »Du bist doch ein Spinner. Man kann kein Licht einfangen. Das geht nämlich nicht. Das muss ich gleich Morgen früh den anderen erzählen. Die werden sich totlachen.« Er schüttelte den Kopf und verschwand ins Haus, während Pauls Kopf vor Wut rot anlief.
»Ich werde es dir schon zeigen. Meine Idee wird funktionieren.« Er hob noch einmal das verschlossene Glas empor und blickte hinein. Er konnte das Licht des Sonnenuntergangs genau sehen. Aber steckte es tatsächlich im Einmachglas oder kam es doch direkt von der Sonne, die schon fast verschwunden war? Egal. Er brachte seinen Fang ins Haus und versteckte ihn in seinem Schrank.
Schon in der Nacht besorgte sich Paul ein paar weitere Gläser, denn er hatte ein paar ganz seltene Lichtphänomene entdeckt, die es nicht all zu oft über den Garten gab. Darunter waren Sternschnuppen und das schwache Leuchten des Nordlichts, dass ein besonders starker Sonnenwind zur Erde geschickt hatte.
In den nächsten Monaten wurde Pauls Gläsersammlung immer größer. In manchen hatte er warme Lichter eingefangen, in anderen Erinnerungen an schöne Momente. Mittlerweile hatte sich in der Schule herumgesprochen, was er da trieb. Zu Anfang hatte sich Paul dafür noch geschämt und war seiner Leidenschaft so heimlich wie möglich nachgegangen. Doch irgendwann war es ihm egal, was die anderen Kinder über ihn dachten und fing die für ihn besonderen Momente ganz offen ein.
Die Zeit verging. Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen wurden Monate. Der Sommer verabschiedete und räumte seinen Platz für den Herbst. In dieser Zeit gab es nicht mehr so viel Licht für Pauls Einmachgläser. Dafür konzentrierte er sich nun auf schöne, bunte Farben, wie sie nun in den Baumkronen der Wälder zu finden waren.
Irgendwann wurde es kalt. Die Bäume ließen ihr Laub fallen. Die Welt wurde grau und fad. Nun gab es kaum noch Möglichkeiten, schöne Momente einzufangen.
Paul blickte nun regelmäßig in seinen Schrank hinein. Immer wieder erfreute er sich an die vielen Augenblicke, in denen er sein Leben ganz besonders genossen hatte. »Hm, ich habe schon wieder eine tolle Idee. Vielleicht kann ich für meine Erinnerungen einen wundervollen Platz finden.«
Das Weihnachtsfest rückte näher. Nach und nach holten die Menschen Bäume ins Haus und schmückten sie festlich mit Kugeln, Strohsternen, Salzgebäck und Lichterketten. Man traf sich in der Stadt, war viel freundlicher zueinander und freute sich schon auf das Fest.
Auch Paul hatte sich viele Gedanken gemacht und stand am frühen Abend im Garten und hängte seine gesammelten Einmachgläser mit Lichtern und Erinnerungen an die Zweige der großen Tanne in der Mitte der Wiese. »Glaubst du immer noch an deine verrückte Idee?« Wieder war es Finn, der sich auf der anderen Seite des Zauns den Bauch vor lachen hielt. »Also ich sehe da nichts in deinen Gläsern. Hat wohl nicht geklappt, was? Du bist jetzt bestimmt mächtig enttäuscht. Die anderen werden sich nach den Ferien vor kringeln, wenn ich ihnen davon erzähle.«
Paul reagierte nicht auf die Provokation. Er versuchte, nicht auf Finn zu hören und kümmerte sich weiter um seine Einmachgläser.
Etwas später ging die Sonne unter. Es wurde dunkel. In den Häusern der Nachbarschaft begannen die Weihnachtsfeiern. Paul stand mit seiner Mutter im Garten. Gemeinsam blickten sie auf die Erinnerungen der letzten Monate, als es plötzlich in der ganzen Stadt dunkel wurde und auch blieb.
Ein Stromausfall tauchte die Häuser in Finsternis.
»Boah, ist das nervig. Wie soll ich denn jetzt mein Weihnachtsgeschenk auspacken? Ich brauche Licht.« Finn kam ins Freie, versuchte verzweifelt, im Licht der Sterne etwas zu erkennen, als sein Blick auf Pauls Baum fiel. Dieser schien regelrecht zu strahlen. In jedem kleinen Einmachglas steckte ein noch kleineres Licht, das am Tag nicht zu erkennen gewesen war. Nun, da es nirgendwo sonst Licht gab, konnten sie sich in ihrer ganze Pracht präsentieren.
Finn fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Das ist ja krass. Die Dinger funktionieren ja doch. Wie hast du das gemacht? Da steckt doch ein Trick dahinter.« Er kletterte über den Zaun, ging mehrfach um dem Baum herum und suchte nach Kabel, Batterien und Powerbanks. Nichts davon konnte er finden.
»Das sind alles deine Erinnerungen und sonnige, warme Tage?«
Paul nickte stolz. »Ich habe jede einzelne davon eingefangen und sorgsam eingeschlossen. Heute ist der perfekte Moment, sich ihrer wieder bewusst zu werden und sie zu genießen.«
Er stellte sich auf die Fußspitzen, griff nach einem der Gläser und gab es Finn in die Hand. »Erinnerst du dich an diesen warmen Sommerabend, an dem du mich aufgezogen hast?«
Finn nickte und blickte zerknirscht zu Boden. »Ja.«, stammelte er. »Tut mir echt leid, Mann.«
»Dieser Moment steckt hier drin. Das ist mein allererstes Glas gewesen. Es ist für mich etwas Besonderes. Deswegen möchte ich es dir schenken.«
»Das … das kann ich doch nicht annehmen.«
Paul grinste. »Doch, das kannst du. Ich möchte diesen Momente mit dir teilen.«
»Du bist der Beste. Das wusste ich schon immer. Ich muss jetzt wieder rüber. Frohe Weihnachten und bis bald.« Finn ging zurück, setzte sich ins Haus an ein Fenster und blickte für die nächsten Stunden nur noch auf den Sonnenuntergang in seinen Händen. Sein Weihnachtsgeschenk hatte er völlig vergessen. Das war ihm in diesem Moment nicht mehr so wichtig.
Paul hingegen fühlte sich richtig wohl. Er hatte durch das Teilen einer Erinnerung, eines warmen, sonnigen Augenblicks, einen neuen Freund gewonnen, der nun überglücklich war. »Können wir nicht etwas gegen den Stromausfall unternehmen?«, fragte er seine Mutter. »Können wir nicht den Menschen in der Nachbarschaft ein warmes Licht bringen? Sie wären dann nicht mehr in der Dunkelheit allein.«
Er pflückte seine kleinen Einmachgläser von den Zweigen der Tanne herunter und stapelte sie vorsichtig in seinem Bollerwagen aufeinander. Dann machte er sich mit Mama auf den Weg durch die Straßen. Sie klopften an jeder Tür, wünschten frohe Weihnachten und verschenkten eine Erinnerung an einen sonnigen und warmen Tag. Nach kurzer Zeit leuchtete die Stadt wieder in einem warmen Licht, ohne das der Strom wieder floss.
(c) 2023, Marco Wittler
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