Der kleine Drache Dimitri sucht einen Job
Der kleine Drache Dimitri war aufgeregt. Schon seit Monaten hatte er sich auf diesen einen Tag gefreut. Jetzt, ein paar Wochen vor dem Jahresende, war es endlich so weit. Er hatte die Schule für Drachenkinder abgeschlossen und gehörte nun zu den Großen seiner Art.
Bei diesem Gedanken musste Dimitri leise seufzen, denn jeder Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass er alles andere als groß war. Während seine Mitschüler mit ihren Köpfen fast schon an die Decken der Klassenräume stießen, konnte er selbst mühelos unter den Tischen spazieren gehen. Trotzdem hatte er sich niemals aufgegeben oder an sich gezweifelt. Denn auch für kleine Drache musste es einen wichtigen Job geben, den sie mit ihrem ganzen Herzblut ausfüllen konnten.
Nun stand er vor der Tür der Arbeitsagentur des Drachenlandes. Unzählige seiner Artgenossen gingen minütlich ein und aus. Die einen flogen, die anderen stürmten geradezu durch den Eingang.
»Wenn ich doch nur schnell genug hinein gelangen könnte.« Aber jedes Mal, wenn Dimitri einem anderen Drachen folgen wollte, war er mit seinen kurzen Beinen und Flügel nicht schnell genug. Die Tür fiel immer wieder ins Schloss und hielt ihn draußen, denn für ihn war sie viel zu schwer.
Dimitri blickte sich um. Irgendwie musste es doch eine praktische Lösung für die kleinen Drachen geben. Die konnte man doch nicht einfach ignorieren. Doch dann fiel ihm auf, dass er hier der einzige Kleine war. »Wenn ich jetzt nicht endlich da rein komme, verpasse ich meinen Termin zur Berufsberatung. Dann kann ich mir ein eigenes, selbstständiges Leben für das nächste Jahr abschminken.«
Plötzlich wurde ein Fenster geöffnet Ein Angestellter der Arbeitsagentur ließ etwas frische Luft ins Haus. Dimitri erkannte sofort seine Chance. Er startete seine kleinen Flügel und flog hinauf zum ersten Stockwerk. Starker Schwefelgeruch schlug ihm entgegen. »Das wurde aber dringend nötig, dass da mal jemand lüftet.« Er lachte und landete in einem kleinen Büro.
»Hey, was soll denn das? Ich habe jetzt Mittagspause und will hier niemanden sehen.« Der Drache hinter dem Schreibtisch sah stinksauer aus. Die grünen Schuppen seines Kopfes liefen rot an. Das sah ganz gefährlich nach einem Einsatz eines Drachenfeuers aus.
»Bin schon weg!«, rief er und stürmte auf die Bürotür zu. »Das mit dem Feuer würde ich mir auch noch einmal überlegen. Denn dann stinkt es hier nur noch mehr nach Schwefel.« Ohne eine Antwort abzuwarten, flüchtete er auf den Flur und schloss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich. Kaum war er aus dem Büro, hörte er ein Fauchen und ein Brüllen. Dichter Rauch quoll unter der Tür hervor. »Und dabei habe ich ihm noch gesagt, er soll auf sein Feuer verzichten. Hoffentlich hat er in seiner Wut nicht ein paar wichtige Akten verbrannt. Es könnte sonst sein, dass ein paar andere Jungdrachen keinen Job bekommen.«
Dimitri marschierte los, blickte auf die Türen zur linken und zur rechten Seite. Er suchte die mit dem Buchstaben D, D wie Dimitri.
Gerade noch rechtzeitig klopfte er an, trat ein und setzte sich auf einen Stuhl, der viel zu groß für ihn war. Er konnte nicht einmal über die Kante des Schreibtischs gucken.
»Hallo?«, fragte eine Stimme von der anderen Seite. »Hallo?« Es folgte ein Stöhnen. »Wie ich das hasse. Ständig klopft jemand an und kommt dann aber nicht herein. Das ist so schlimm wie ein Klingelstreich an der Haustüre.«
»Ähm … Hallo. Ich bin hier unten.« Dimitri hob eine Hand und reckte sich so hoch er nur konnte. Er winkte und hoffte gesehen zu werden.
Ein großer Kopf tauchte über ihm auf und blickte auf ihn herab. »Ach du je. Du bist aber ein kleiner Drache. Damit habe ich jetzt wirklich nicht gerechnet.« Die Drachendame öffnete eine Schublade, entnahm ihr eine Brille mit besonders dicken Gläsern und kam Dimitri noch ein Stückchen näher. »Und warum bist du zu mir gekommen? Das hier ist die Arbeitsagentur für Drachen. Bist du dafür nicht noch etwas klein?«
Dimitri schüttelte den Kopf, holte sein Abschlusszeugnis aus der Tasche und hielt es der Dame unter die Nase. »Ich habe gerade meinen Abschluss gemacht. Ich kann nichts dafür, dass ich so klein geraten bin. Vielleicht liegt das daran, dass ich als Kind aus Versehen mal mein Drachenfeuer gelöscht habe. Aber das konnte mir der Drachenarzt auch nicht sagen.«
Er legte das Zeugnis weg und stellte sich auf seine Hinterbeine. Seine Nase berührte nun fast die der Sachbearbeiterin. »Ich bin hergekommen, weil ich einen Job suche, der nur von einem echten Drachen ausgeführt werden kann. Ich kann fliegen, ich kann Feuer spucken. Ich bin klein, aber nicht auf den Kopf gefallen. Nur manchmal stolpere ich über meine eigenen Füße. Das passiert mir aber nur, wenn ich gerade aufgestanden und noch müde bin.«
Die Drachendame nickte wortlos, ließ sich wieder in ihren Sessel plumpsen und nahm ein dickes Buch zur Hand. Sie blätterte durch die Seiten, mal vor und mal zurück. Eine ihrer langen, spitzen Krallen fuhr über die Zeilen und half ihr dabei, etwas Passendes zu suchen. Doch nach ein paar Minuten klappte sie das Buch wieder zu, legte die Brille weg und seufzte. »Wir haben da ein kleines Problem.« Sie griff zu einem Lineal und hielt es neben Dimitri. »Es gibt einige Berufe, für die man kleine Drachen braucht. Allerdings wird für jeden einzelnen davon trotzdem eine Mindestgröße verlangt. Du bist für alles, was in meiner Liste steht, zu klein. Es tut mir leid. Aber im ganzen Drachenland gibt es keinen einzigen passenden Job für dich.«
Dimitri klappte der Mund auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Was sollte er denn jetzt machen? »Aber wie soll ich denn ein normales Leben leben, wenn ich überhaupt keine Chance bekomme, mich zu beweisen. Ich schwöre, ich kann alles und noch mehr. Ich würde mir so viel Mühe geben, dass meine Größe niemandem auffällt.«
Doch das alles half nichts. Die Sachbearbeiterin konnte ihm nicht weiterhelfen. »Trotzdem vielen Dank für ihre Mühen.« Ein paar Minuten später saß Dimitri vor der Arbeitsagentur auf einer Bank und fühlte sich noch kleiner, als er es eh schon war. Dort blieb er eine ganze Weile, bis es langsam dunkel und kalt wurde.
»Ich glaube, ich muss mir eine andere Welt suchen, in der ich leben kann. Hier ist nicht der richtige Platz für mich. Ich werde das Drachenland verlassen.«
Der Entschluss war gefasst. Der kleine Drache machte sich auf den Weg nach Hause. Dort packte er einen kleinen Koffer und flog los.
Schon nach kurzer Zeit hatte er die Stadt hinter sich gelassen, die Vulkanfelder durchquert und hatte hinter dem dichten Wald das Land der Menschen erreicht. Diese waren nicht so groß, wie ein normal gewachsener Drache, dennoch waren sie ein ganzes Stück größer, als er selbst. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich hier gebrauchen können. Wenn ich mich hier so umschaue, sehe ich nur Menschen, die körperlich anstrengende Arbeiten übernehmen. Sie tragen ständig große und schwere Sachen von einem Gebäude zum anderen. Das werde ich nicht machen können.«
Einige von ihnen schleppten sogar ganze Bäume in ihre Behausungen, was Dimitri ganz besonders verwirrte, denn diese großen Pflanzen gehörten eindeutig in den Wald, nicht in die Stuben.
»Hallo, mein schuppiger Freund.« Eine Möwe war vom nahen Hafen in die Stadt gekommen und hatte gleich den ungewöhnlichen Besucher entdeckt. Sie war direkt neben dem Drachen gelandet. »Ich habe auch so komisch geschaut, als ich dieses Verhalten zum ersten Mal beobachtet habe. Die Menschen nennen es Weihnachten. Für wenige Tage holen sie sich einen Baum, schmücken ihn mit bunten Kugeln, Strohsternen, Keksen und Kerzen. Ich kann dir aber nicht sagen, warum sie das machen. Ich habe sie nie danach gefragt. Du schaust am Besten mal durch die Fenster in die Häuser, dann siehst du, wie das bei ihnen abläuft. Manche von ihnen sollen sogar Lieder singen. Das habe ich aber nur von den anderen Möwen gehört und selbst nie festgestellt.«
»Du machst mich neugierig. Ich werde mir das ansehen.« Dimitri verabschiedete sich von dem freundlichen Vogel und kletterte auf die Fensterbank des erstbesten Hauses. Sofort entdeckte er den festlich geschmückten Baum, unter dem bunte Pakete standen. Es gab nur ein kleines Problem. Die Kerzen, die auf den Ästen befestigt waren, gingen immer wieder aus. Irgendwo schien es ein undichtes Fenster zu geben.
»Das versaut den Menschen bestimmt den Spaß.« Plötzlich riss der kleine Drache seine Augen auf. »Moment mal! Das ist es! Jetzt weiß ich endlich, welchen Job ich zukünftig ausüben kann. Wie gut, dass ich das Drachenland verlassen und die Stadt der Menschen aufgesucht habe.«
Dimitri wartete geduldig, bis jemand die Haustür öffnete und schlich sich schnell in Innere. Er suchte den Weg in die gute Stube, wo er am Stamm des Weihnachtsbaums empor kletterte. Auf einem besonders dicken Ast machte er es sich gemütlich und wartete ab.
Da spürte er bereits den ersten Windhauch. Drei Kerzen, die nah beieinander standen, erloschen auf der Stelle. »Jetzt ist es so weit. Es wird Zeit für meinen ersten Einsatz.« Dimitri öffnete sein Maul, holte tief Luft und spukte drei kleine Flammen. Schon waren die Kerzen wieder entzündet. »Das klappt ja perfekt. Das werde ich die nächste Zeit weiter machen.«
Der kleine Drache war überglücklich. Endlich hatte er eine Aufgabe für sich gefunden, die nützlich und sinnvoll war. Er hatte seine Bestimmung gefunden.
Natürlich sprach es sich schnell herum, dass es in der Stadt ein Haus gab, in dem sich die Weihnachtskerzen ständig selbst neu entzündeten. Es dauerte nur wenige Tage, bis jeder Mensch von Dimitri gehört hatte. Von da an, war er in allen Straßen und Häusern als Weihnachtsdrache bekannt.
Die Einwohner der Stadt rissen sich um ihn. Jeder wollte ihm eine Arbeit anbieten. Zu jedem Weihnachtsfest arbeitete Dimitri in einem anderen Haus. Und während der restlichen Monate quartierte man ihn im einem alten Schloss ein, wo er sich um die Beleuchtung in den dunklen Gängen und Räumen kümmerte.
(c) 2023, Marco Wittler
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