1548. Der magische Adventskalender

Der magische Adventskalender

Maxi kletterte die knarzende Leiter nach oben, die sich unter seinen Schritten bedenklich hin und her bewegte. Sie hatte definitiv schon bessere Zeiten gehabt. Als er oben angekommen und durch die kleine Luke gestiegen war, musste er mehrmals husten.
»Wann war denn zum letzten Mal jemand hier auf dem Dachboden? Der Staub liegt gefühlt einen ganzen Meter hoch.«
Vorsichtig bewegte sich Maxi vorwärts und versuchte, nicht zu viel Dreck aufzuwirbeln.
»Hoffentlich hatte Mama den richtigen Riecher und ich finde hier oben die alten Weihnachtsbaumkugeln von Opa.«
Opa weilte schon ein paar Jahre nicht mehr auf der Erde. Mindestens genau so lang hatte er keinen Baum mehr geschmückt. Seine liebsten Weihnachtskugeln waren in Vergessenheit geraten.
Doch dieses Jahr sollte alles anders werden. Opa durfte nicht in Vergessenheit geraten. Das war der Grund, warum Maxi nun auf der Suche war.
Auf dem Dachboden standen viele Kisten und Kartons. Die meisten von ihnen waren nicht einmal beschriftet. »Super.« Maxi verdrehte die Augen. »Muss ich die jetzt alle einzeln öffnen und durchsuchen? Warum melde ich mich eigentlich immer freiwillig für die blödesten Aufgaben? Ich sollte auch mal Nein sagen.«
Doch dann kicherte er leise. Insgeheim hatte er sich gewünscht, mal ganz allein den Dachboden betreten und durchsuchen zu dürfen. Er vermutete, vielmehr erhoffte er sich sogar, auf Geheimnisse und besondere Dinge zu stoßen, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte.
Maxi öffnete den ersten Karton und fand einen Stapel gründlich gefalteter Tischdecken. »Uff. Die sind aber so gar nicht spannend. Damit könnte ich bestimmt nicht mal einen Geist aus seinem Versteck locken, selbst wenn sein Laken wie ein schweizer Käse aussehen würde.«
Und weiter. Maxi blickte auf eine alte Holzkiste hinab. Sie war mit einem Vorhängeschloss gesichert. »Die macht mich jetzt aber besonders neugierig.« Er überlegte. Das Schloss war ein eindeutiger Beweis, dass nicht jeder den Inhalt sehen durfte. Auf der anderen Seite war der Besitzer nicht mehr unter ihnen. Opa konnte es also nicht verbieten. »Vielleicht möchte er ja sogar, dass ich einen kurzen Blick darauf werfe.«
Maxi sah sich um, fand einen Holzblock. Den benutzte er als Werkzeug. Mit wenigen Schlägen waren die Halteringe aus der Kiste gebrochen. Andächtig legte er die Hände auf den Deckel und schloss die Augen. Eine seltsame Wärme fuhr durch seinen Körper. Was mochte sich im Innern befinden?
Er hob den Deckel an, erwartete ein helles Licht, dass ihm entgegen strahlte, wurde dann aber doch enttäuscht.
»Sieht schick aus, aber ist nicht so spektakulär, wie ich es mir erhofft hatte.« Da lag ein Adventskalender. Er war uralt, aus Holz gefertigt und von einer dicken Staubschicht bedeckt.Maxi hob ihn vorsichtig heraus. »Ob da jemand noch ein Stück Schokolade drin vergessen hat?«
Er versuchte eines der kleinen Türchen zu öffnen. Er scheiterte. »Das Gelenk ist bestimmt festgerostet.« Er versuchte ein zweites, drittes Türchen, arbeitete sich bis zum Ende durch. Kein einziges ließ sich öffnen.
»Schade. Ich nehme ihn trotzdem mit in mein Zimmer. Er ist dann einfach nur Deko und eine Erinnerung an Opa.«
Ein paar Minuten später fand er die bunten Weihnachtskugeln. Der Ausflug auf den Dachboden war beendet.

Ein paar Tage später zeigte der Kalender den ersten Dezembertag. Mama hatte das Haus mit allerlei Weihnachtsschmuck ausgestattet. Man musste jetzt wirklich aufpassen, dass man nicht beim nächsten Schritt gegen etwas stieß. Maxi war das alles etwas zu viel. Er liebte die Weihnachtszeit, aber Mama musste es jedes Jahr aufs Neue übertreiben.
Am Abend saß er auf seinem Bett. Sein Blick wanderte immer wieder zum Adventskalender. Das Ding übte eine unglaubliche Faszination auf ihn aus. Plötzlich blitzte da etwas auf. Hinter einer der Türen war für einen kurzen Augenblick ein helles Licht zu sehen. Oder? Maxi war sich nicht sicher. Der Tag in der Schule war lang gewesen, er selbst müde und kaputt. Vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet.
»Ich sollte langsam ins Bett gehen. Ich habe schon Halluzinationen.« Doch da blitzte es schon wieder auf.
Maxi legt das Buch, in dem er die letzte halbe Stunde gelesen hatte, zur Seite und kroch zum Kalender. »Es ist Türchen Nummer Eins. Sollte es etwa …« Er überlegte nicht mehr lange, sondern legte einen Finger daran. Vorsichtig zog er am Holz. Das Türchen schwang auf und gab die Sicht auf etwas Unglaubliches frei. Im Kalender schien sich eine ganze Welt zu befinden.
»Das kann unmöglich sein. Da befindet sich bestimmt ein Tablet hinter dem Holz und ich sehe nur ein Video. Mich nimmt bestimmt jemand auf den Arm.« Maxi versuchte nun, auch die anderen Türchen zu öffnen. Aber diese blieben weiterhin fest verschlossen. »Was mache ich denn jetzt?« Er blickte durch die kleine Öffnung. Auf der anderen Seite befand sich eine große Wiese, die bis zur Unendlichkeit zu reichen schien. In unregelmäßigen Abständen standen Bäume und Sträucher. Maxi wollte mehr darüber wissen. War es wirklich eine technische Spielerei?
Er steckte den Zeigefinger in den Adventskalender. Um ihn herum wurde plötzlich alles schwarz. Dann schien es, als würden Sterne in großer Zahl an ihm vorbei rasen, bis er mitten auf der Wiese stand.
»Das … das kann doch nicht wahr sein. Was ist hier passiert und wo bin ich?«
Eine laute, dröhnende, tiefe Stimme erklang. »Wähle weise.«
»Was soll ich wählen?«
»Wähle weise.«
Maxi zuckte mit den Schultern. Er sah sich um. Vorsichtig setzte er zuerst einen, dann den anderen Fuß einen Schritt weiter. Der Boden fühlte sich echt an. Also ging Maxi zum nächsten Baum und blickte hinauf in dessen Krone. »Irre. Da wachsen keine echten Früchte. Da hängen süße Leckereien.«
Die Äste waren übersät mit Schokoladenfiguren, Zuckerstangen, Lebkuchenherzen und lecker duftenden Plätzchen und Keksen.
Maxi griff nach einem kleinen Nikolaus aus Schokolade und schaute sich zur Sicherheit noch einmal um. Niemand war in der Nähe. Er pflückte die kleine Süßigkeit herunter.
»Gute Wahl.«, sagte die Stimme. »Lass ihn dir schmecken.«
Einen Augenaufschlag später saß Maxi wieder auf seinem Bett, den Nikolaus in seiner Hand haltend. Das erste Türchen war wieder verschlossen. Das Licht dahinter erloschen.
»Was … war … denn … das?«
Sofort versuchte er, den Kalender noch einmal zu öffnen. Es gelang ihm nicht. »Also werde ich auf Morgen warten müssen.

Die Adventszeit verging wie ihm Flug. Maxi öffnete nun an jedem Tag ein weiteres Holztürchen, reiste in diese zuckerbunte Zauberwelt und bediente sich an den Bäumen und Sträuchern, sobald er von der geheimnisvollen Stimme dazu aufgefordert wurde. Allerdings achtete er auch immer darauf, dass er nur ein süßes Teil nahm und niemals eines der Größeren. Wer wusste schon, ob er allein hierher kam. Vielleicht durften sich auch andere Kinder an den Leckereien bedienen, denen es nicht so gut ging, wie ihm. Doch wie genau dieses Wunderwerk aus Holz funktionierte, wo sich die andere Welt wirklich befand, bekam er einfach nicht heraus.

Der Advent näherte sich seinem Ende. Mittlerweile war es Heiligabend geworden. Maxi hatte nur noch ein letztes Holztürchen zu öffnen, bevor sich der Kalender für fast ein ganzes Jahr verschließen würde. »Ich bin schon sehr darauf gespannt, was mich heute erwartet. Von den normalen Adventskalendern, die Mama immer im Laden gekauft hat, wusste er, dass sich hinter dem letzten Türchen immer etwas ganz Besonderes befand.
Mit zittrigen Fingern wartete er darauf, dass wieder das typische Irrlicht erschien und damit zeigte, dass das Türchen geöffnet werden wollte und durfte.
Es blitzte. Maxi legte sofort die Finger auf das Holz. Auch wenn er schon dreiundzwanzig Türchen geöffnet hatte, war es dieses Mal etwas Besonderes. Er schloss kurz die Augen, atmete tief ein und wieder aus. Dann zog er auf und befand sich wieder auf der süßen Wiese.
Auf der einen Seite war es toll, wieder hier zu sein, auf der anderen aber auch eine kleine Enttäuschung. Maxi hatte sich etwa mehr erhofft.
»Wähle weise.«, sagte die gewohnte Stimme. Doch dieses Mal war sie nicht so donnernd laut. Sie klang normal und ganz nah.
Maxi schluckte. Er drehte sich herum und stand einem alten Mann gegenüber. Hätte er die Hand ausgestreckt, er hätte ihn berühren können.
»Wähle weise, Maxi.« Der Alte grinste.
»Opa? Bist du das?«
Opa nickte, breitete seine Arme aus und drückte seinen Enkel an sich.
»Aber ich dachte, du bist …« Maxis Stimme ging in einem Schluchzen unter.
»Tot? Ja, das bin ich wohl. Aber ich bin auch hier und das verdanke ich dir. Du hast den Adventskalender der Erinnerungen also gefunden.«
»Aber wie funktioniert er? Wo sind wir und warum kann ich dich sehen, berühren und mit dir sprechen?«
Opa setzte sich ins Gras, pflückte eine Schokoladenkugel von einer Blume und steckte sich diese genüsslich in den Mund. »Ich hatte schon ganz vergessen, wie lecker Schokolade schmeckt.«
Er klopfte neben sich auf den Boden. Maxi ließ sich nun auch nieder.
»Du hast den Kalender auf dem Dachboden gefunden, wie ich einst. Du hast ihn in deinem Zimmer aufgehängt. Dort hat er dich jeden Tag dazu gebracht, dich an mich zu erinnern. Deswegen darf ich jetzt eine Weile bei dir sein. Das ist auch eine kleine Belohnung dafür, dass du hier nicht nur an dich selbst gedacht hast, sondern auch an die, die es nicht so gut haben. Schau mal dort rüber.«
An der Stelle, wo Wiese und Himmel sich scheinbar berührten, öffnete sich ein Tor, das zuvor nicht zu erkennen gewesen war. Ein Gruppe von vielleicht dreißig Kindern stürmte herein. Sie alle waren von dem vielen Naschwerk begeistert und bedienten sich an Büschen und Bäumen.
»Das Tor führt zu einem Kinderheim. Jedes Jahr öffnet es sich und lässt die Kinder herein. So bekommen sie ein unvergessliches Weihnachtsfest. Denn darum geht es an Weihnachten wirklich. Es sind nicht die Geschenke oder das viele Essen. Nein, es geht um die kleinen Momente, um Erinnerungen und um Freunde und Familie. Das ist es, was zählt.«
Sie standen auf und spazierten gemeinsam umher, naschten mal hier und mal da. Maxi begann irgendwann, mit den anderen Kindern zu spielen, bis ihm auffiel, dass Opa, der von einer Parkbank aus zuschaute, blasser wurde.
»Bist du in Ordnung? Geht es dir gut oder wirst du krank?«
Opa lachte und schüttelte den Kopf. »Für mich wird es nun langsam Zeit zu gehen. Für dich auch, mein lieber Maxi. Deine Mama wird bestimmt schon auf dich warten.«
»Sehen wir uns wieder?«, fragte Maxi besorgt.
»Ganz bestimmt.«, versicherte ihm Opa. Du holst im nächsten Jahr den Kalender in dein Zimmer und wartest geduldig auf das letzte Türchen.«
Mit diesen Worten verblasste er vollends und verschwand. Mit ihm löste sich auf die Zuckerwelt auf. Maxi saß nun wieder in seinem Zimmer. Gerade rief Mama nach ihm. Sie brauchte Hilfe beim Aufhängen der alten Weihnachtskugeln am Baum.
»Bin sofort da!«, rief Maxi und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. »Ich weiß auch schon genau, wo welche Kugel hängen muss. Opa hatte dafür ein bestimmtes System. Das hat er mir verraten.«

(c) 2023, Marco Wittler

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