Die ängstliche Schneeflocke
Die Sonne hatte sich schon vor ein paar Stunden vom Himmel verabschiedet. Sie war hinter dem Horizont verschwunden und hatte sich zum schlafen in ihr großes Bett gelegt.
Während die Dunkelheit die Herrschaft am Firmament übernommen hatte, zogen unbemerkt dicke Wolken auf. Sie verdeckten nicht nur das wenige Licht der Sterne, sie schienen für ein kräftiges Unwetter zu stehen. Aber es kam dann doch ganz anders.
»Das schaut ganz schön gruselig aus.«, sagte eine kleine Schneeflocke, die ängstlich aus einer der Wolken zur Erde hinabblickte. »Ihr wollt wirklich dort runter? Ist das nicht viel zu gefährlich?« In ihren wildesten Gedanke malte sie sich aus, was alles auf dem Weg zum Boden passieren konnte. »Was ist, wenn der Wind uns packt und davonträgt? Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus und würde mich völlig verfliegen. Ich würde niemals an meinem Ziel ankommen. Ich besitze doch gar kein Navigationssystem. Vielleicht krache ich gegen einen Berg, ein Haus oder werde von einer spitzen Tannennadel aufgepiekst. Das stelle ich mir alles ganz schön schmerzhaft vor.«
Wie sah die Schneeflocke auf die Erde. »Und was sind das da für Dinger, die so schnell über die Straßen flitzen? Sind das etwa Autos? Ich habe gehört, dass man bei denen ganz schnell unter die Räder kommen und zu grauem Matsch zerquetscht werden kann. Das klingt richtig schlimm.«
Nein, nein, nein. So ein Schicksal wollte sie auf keinen Fall erleiden. »Und schaut euch mal den Boden an. Er glänzt an ganz vielen Stellen. Das sind bestimmt Pfützen. Es muss irgendwann im Laufe des Tages geregnet haben. Stellt euch doch nur mal vor, ihr geratet dort hinein. Ihr würdet von einem Augenblick zum anderen schmelzen und vergehen.«
Die Schneeflocke verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ich bleibe hier oben. Ich mache dieses Schneefalldings nicht mit. Die Wolke ist meine Heimat. Hier fühle ich mich sicher und hier bleibe ich auch für den Rest meines Lebens.« Damit war alles gesagt. Damit war ihre Entscheidung gefallen.
Die älteste aller Schneeflocken blickte aus der Wolke heraus und hob langsam die Hand. »Macht euch bereit. Es ist gleich so weit. Alles hört auf mein Kommando.« Wenige Sekunden später hatten sie ihr Zielgebiet erreicht. Sie ließ die Hand fallen. »Los gehts!«
Die Schneeflocken sprangen los und stürzten sich in die Tiefe. Kaum waren sie unterwegs, wurden sie vom Wind ergriffen und in alle Richtungen davon gewirbelt.
»Seht ihr? Ich hab es euch doch gesagt. Schneien ist eine richtig dumme Idee. Meine Entscheidung war eindeutig richtig.« Schon wollte sie laut triumphieren, aber die Sorge um ihre Artgenossen war auch noch da. Also blickte sie zur Erde hinunter und versuchte, den anderen mit den Augen zu folgen.
Und plötzlich kam Bewegung in die Wolke. Das riesige Gebilde erbebte. Die kleine Schneeflocke verlor ihren Halt und stürzte an.
»Hilfe!«, schrie sie und versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Doch da war nichts mehr. Die Wolke, die nur aus Schneeflocken und Eiskristallen bestanden hatte, hatte sich durch den Schneefall komplett aufgelöst.
Der Wind packte zu. Er blies die Schneeflocke nach Norden, kurz daraus ging es über den Westen und Süden nach Osten und wieder zurück. Mal fiel sie mit atemberaubender Geschwindigkeit, dann wurde sie wieder ein Stück in die Höhe getragen. Aber eines war jetzt schon gewiss: am Ende ihrer Reise würde sie auf dem Boden landen. Die Frage war nur, wo sich ihr Ziel befand.
Die Schneeflocke ging über einer kleinen Stadt nieder und steuerte direkt auf eine stark befahrene Straße zu. »Ich wusste es. Ich habe es immer gewusst. Ich werde unter dem Reifen eines Autos sterben. Aber die anderen wollten ja nicht auf mich hören.« Sie war nur noch einen Meter über dem Boden, als eines der schnellen Fahrzeuge auf sie zukam. Doch statt gegen die Frontscheibe zu klatschen, warf das Auto sie hoch, ließ sie dicht über dem Dach dahinrauschen und zog sie hinter sich hinab. Es ging in einer schnellen Kurve wieder von der Straße weg. Die Schneeflocke überquerte einen Gehweg und steuerte geradewegs auf eine eklige, schmutzige Pfütze zu.
»Ich will doch nur zurück in meine Wolke. Da habe ich mich sicher und geborgen gefühlt. Aber nun werde ich in dem Dreckwasser vergehen.«
In diesem Moment blitzte es neben ihr auf. Ein Wesen, das einem Menschen nicht ganz unähnlich sah, nur viel kleiner war, erschien wie aus dem Nichts. Zwei durchsichtige Flügel hielten es in der Luft. »Brauchst du Hilfe, kleine Schneeflocke? Soll ich dir helfen?«
Die Schneeflocke hätte gern genickt, aber dafür war sie viel zu beschäftigt. Sie ruderte mit den Armen, versuchte ihre Flugrichtung noch irgendwie zu verändern und schrie so laut sie nur konnte.
»In Ordnung. Ich habe verstanden.« Das Wesen holte einen Zauberstab hervor und gab sich als Fee zu erkennen. Sie wirbelte mit dem Stab hin und her, murmelte eine Zauberformel und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Die Schneeflocke verstummte. Unter Hilfe hatte sie sich etwas ganz anderes vorgestellt. »Das war es dann wohl. Wenn mir nicht einmal mehr eine Fee wirklich helfen kann, dann ist es für mich aus.« Sie akzeptierte notgedrungen ihren Tod, schloss die Augen und wartete darauf, im Wasser der Pfütze zu schmelzen und zu zergehen.
Sie landete. Doch statt im Wasser, lag sie auf einer glatten, kalten Oberfläche.
»Ich habe eine!«, rief die Stimme eines Kindes. »Ich habe endlich eine Schneeflocke eingefangen.«
Die kleine Schneeflocke öffnete die Augen, fand sich in einem Gläschen wieder und blickte einem Menschenkind ins Gesicht.
»Jetzt habe ich endlich die letzte Zutat für meine Schneekugel.«
Das Glas wurde über eine Miniaturwelt gestülpt, in der sich eine klitzekleine Winterstadt mit Häuschen und Bäumen befand. Die Schneeflocke sah sich neugierig um und war schnell begeistert.
»Das ist ja irre. Jetzt habe ich meine eigene, kleine Welt, in der mir nichts mehr passieren kann, in der nach Lust und Laune umherfliegen und fallen kann, ohne mich zu verletzten. Hier fühle ich mich sicher und geborgen.
Das Kind war natürlich auch begeistert. Vorsichtig brachte es die Schneekugel nach Hause und verstaute sie in einem kleinen Karton. »Seit Wochen warte ich auf das passende Winterwetter. Jetzt ist endlich mein Weihnachtsgeschenk für Oma fertig. Sie wird sich bestimmt riesig freuen.«
(c) 2023, Marco Wittler
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