1556. Kleine Weihnacht

Kleine Weihnacht

Mitten in der Stadt befand sich ein kleiner Wald, der den Bewohnern als Naherholungsgebiet diente und zu täglichen Spaziergängen einlud. Der Wald barg aber auch ein Geheimnis, das noch kein Mensch entdeckt hatte.
Im Schatten dreier eng aneinander stehenden Bäumen lag ein großer Felsen, der dicht mit Flechten und Moos bewachsen war. Unter ihm lag ein kleiner Höhleneingang verborgen. Ein schmaler Gang führte schräg in die Tiefe und verzweigte sich immer wieder mal in die eine, mal in die andere Richtung, mal hoch und mal runter. An seinem Ende befand sich ein Raum, in dem ein Tier lebte, von dem jeder dachte, es wäre seit vielen Millionen Jahren ausgestorben.
Es war ein kleiner Dinosaurier, der sich so tief unter der Stadt versteckte und nur in der Nacht ins Freie kam, um sich etwas zu futtern zu besorgen. Dabei ging er besonders vorsichtig vor, denn er wollte auf keinen Fall entdeckt werden.
Eines Nachts war er wieder unterwegs. Da sich das Jahr seinem Ende zuneigte, war es ganz schön kalt geworden. Deswegen beeilte sich der Dino, um schnell in die Stadt zu kommen, einen Leckerbissen zu stibitzen und wieder nach Hause zu laufen. Doch dieses Mal war etwas anders.
Überall brannten Lichter. In den Stuben der Menschen standen bunt geschmückte Bäume, unter denen bunte Pakete gestapelt waren.
»Ui, ist das toll. Sie feiern wieder Weihnachten.« Der Dino seufzte. »Wie sehr ich die Menschen darum beneide. Ich würde auch gern ein einziges Mal in meinem Leben Weihnachten feiern. Ich weiß aber nicht, wie ich das anstellen soll.«
Gedankenverloren machte er sich mit etwas Futter auf den Heimweg. Dabei bemerkte er nicht, dass er dabei beinahe einer größeren Menschengruppe in die Arme lief. Auf der Hauptstraße fand gerade eine Weihnachtsparade statt. Bunt geschmückte Wagen fuhren langsam zwischen staunenden Zuschauern her. Auf einem davon saß ein übergroßer Santa Claus, um den sich als Weihnachtsmänner und -frauen verkleidete Menschen befanden. Sie warfen immer wieder kleine Geschenke zu den Straßenseiten.
Der kleine Dino konnte sein Glück nicht fassen. Noch nie war er Santa Claus persönlich begegnet. Er schlich sich in einen Schatten, der nah an der Straße lag, winkte dem Wagen zu. Wie durch einen großen Zufall, als hätte Santa ihn bemerkt, landete ein kleines Geschenk direkt vor seinen Füßen. Es war ein kleiner Weihnachtsbaum aus Plüsch, den man als Schlüsselanhänger benutzen konnte. Neben ein paar aufgestickten Weihnachtskugeln hatte er noch ein grinsendes Gesicht.
»Ui, der ist aber toll. Den nehme ich mit in meine Höhle. Dort wird er wunderbar hineinpassen.«
Der Dino machte kehrt, lief zurück in seinen Wald und stieg in seine Höhle hinab. Am Ziel angekommen, stellte er den plüschigen Weihnachtsbaum in die Ecke und setzte sich begeistert davor. »Das ist alles, was ich mir je zu Weihnachten gewünscht hätte. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich es auch feiern, ohne Angst zu haben, von irgendwem entdeckt zu werden.«
Dann lehnte er sich zurück, stimmte ein kleines Weihnachtslied an, dass er auf seiner Streiftour gehört hatte und genoss den tollen Abend. Bei einem seiner Blicke zum Plüschbaum hatte er sogar das Gefühl, als würde dieser heimlich mitsingen und ihm immer wieder zuzwinkern.

(c) 2023, Marco Wittler

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