1555. Was ist Weihnachten?

Was ist Weihnachten?

Antares-23 saß im Kommandosessel seines kleinen Erkundungsraumschiffs und blickte gelangweilt auf den Hauptschirm. Mehr als kleine, weiße Punkte waren nicht in der Dunkelheit des Alls zu sehen.
»Bei allen Göttern, die mir auf meinen Reisen nicht begegnet sind, es ist so unglaublich langweilig hier. Warum musste ich unbedingt in einem so weit vom Zentrum der Milchstraße entfernten Seitenarm eingesetzt werden? Was kann es schon zu erkunden geben, wenn man nur in der endlosen Leere unterwegs ist?«
In einem versteckten Lautsprecher knackte es. Das war ein untrügerisches Signal dafür, dass sich der Computer zu Wort melden wollte.
»Du befindest dich hier, weil noch niemand in dieser Gegend war. Es wird also einiges Erforschbares geben.«
Antares-23 verdrehte die Augen und ließ sein Gesicht in seine Hände sinken. »Das war nur eine rhetorische Frage. Darauf erwartet man keine Antwort. Mit künstlicher Intelligenz kann es bei dir noch nicht weit her sein. Ich weiß gar nicht, warum deine Programmierer dich so bezeichnen.«
»Dafür redest du aber sehr häufig mit mir.« Der Computer machte eine kurze Pause, schien seine Daten abzugleichen. »Du hast in den letzten sieben Tagen sechshundertfünfundreißig Anfragen gestellt, die ich dir alle beantwortet habe. Davon waren mehr als 80% privater Natur.«
Antares-23 stöhnte genervt. »Klugscheißer.« Er tippte auf dem Bedienpult in der Armlehne seines Sessels und rief eine Karte der Milchstraße auf. Ein kleiner roter Punkt leuchtete auf, der die Position des Raumschiffs darstellte.
»Was befindet sich unserer Nähe? Wo lohnt sich ein Besuch? Mach mir einen Vorschlag.«
Auf der Brücke blieb es still. Es gab keine Reaktion.
»Computer! Mach mir einen Vorschlag, wohin wir als nächstes fliegen könnten.«
Dieses Mal gab es eine Antwort. »Es gibt da eine kleine Sonne, die nur elf Lichtjahre. Sie hat acht Planeten, von denen sich zwei in der habitablen, der bewohnbaren Zone befinden.«
»Also gut.«, entschied der Captain. »Fliegen wir sie an. Ich habe eh gerade nichts Besseres zu tun.«

Die Flugzeit betrug nur etwas mehr als zwei Tage. Das Raumschiff war mit modernster Technik ausgestattet und verfügte über einen Antrieb, der dem eines Formel-Eins-Schiffes in nichts nachstand.
Sie drangen in das System ein, flogen auf das Zentralgestirn zu und passierten dabei einen Gasriesen nach dem anderen.
Der erste Felsplanet, den sie erreichten, leuchtete schon von weitem in einem satten Rot.
»Computer! Mach mir eine Analyse. Gibt es dort intelligentes oder überhaupt irgendeine Art von Leben oder lohnt es sich nicht, zu landen?«
Im Hintergrund war ein Rattern zu hören. Die Sensoren erledigten ihre Arbeit und übertrugen die gesammelten Daten ins System. »Es gibt nur vereinzelte Spuren toter Mikroben und Bakterien. Dass sich hier Leben befunden hat, scheint mehrere Millionen Jahre zurückzuliegen. Doch dafür bedarf es einer gründlicheren Untersuchung. Möchtest du, dass ich damit fortfahre?«
Antares-23 schüttelte den Kopf. Dann fiel ihm ein, dass der Computer diese Geste wegen fehlender Kameras nicht sehen konnte und schüttelte über seine ganz natürliche Geste erneut den Kopf. »Nicht nötig. Wenn dort kein Leben existiert, interessiert es mich nicht.«
»Das Einzige, was ich finden konnte, sind mehrere Roboter, die sich auf der Oberfläche befinden, sich bewegen und in regelmäßigen Abständen Signale ins All schicken.«
Antares-23 wurde hellhörig. Befand sich unter ihnen etwa ein Volk aus künstlichen Wesen? Das wäre in der Tat etwas Neues gewesen, dass eine nähere Erforschung rechtfertigte.
»Die Signale sind auf den Nachbarplaneten gerichtet, einer kleinen, blauen Wasserwelt mit ein paar Kontinenten.«
Die Augen des Captain begannen zu glühen. »Wir haben etwas gefunden. Dort scheint es eine Zivilisation zu geben, die die Raumfahrt entdeckt hat und nun die nähere Umgebung erkundet. Lass uns hinfliegen.«
Das Raumschiff setzte sich wieder in Bewegung. Der rote Felsbrocken wurde im Rückspiegel langsam kleiner, während der blaue Planet immer näher kam.
»Was sagen die Sensoren?«
Wieder begann der Computer zu arbeiten. »Große Teile der Landmassen sind von Wäldern und Wüsten bedeckt. Aber dazwischen befinden sich immer wieder künstliche Anballungen. Es scheint sich um Städte zu handeln. Ich messe starke Energieflüsse an. Wir haben es mit einer Intelligenten Spezies zu tun.«
»Treffer!« Antares-23 begann zu jubeln und führte ein kleines Tänzchen um seinen Sessel herum auf, bevor ihm sein Verhalten peinlich wurde und er sich wieder auf seinen Platz fallen ließ. Dann wurde ihm erneut bewusst, dass der Computer ihn noch immer nicht sehen konnte, stand erneut auf und tanzte weiter.
»Führst du gerade einen Freudestanz auf?«, fragte der Computer mit seiner neutralen Stimme, an der nicht zu erkennen war, ob es bloße Neugier war oder er sich über den Captain lustig machte.
»Ich … ähm …« Antares-23 setzte sich schnell wieder. Er wurde knallgrün im Gesicht. »Nein, nein. Warum sollte ich so etwas Verrücktes nur tun? Ich bin ein seriöser Forscher, ein Mann der Wissenschaft. Solcherlei Verhaltensmuster sind mir völlig fremd.«
»Dann solltest du meine Sensoren im Fußboden dringend neu kalibrieren. Sie haben nämlich Tanzschritte wahrgenommen.«
Das Gesicht des Captains wurde noch grüner. Vor Scham sank er in sich zusammen und begann zu nuscheln. »Ich habe meine Kontaktlinsen beim Blinzeln verloren. Ich bin über den Boden gekrochen und habe sie gesucht.«
»Konntest du sie finden?«
»Ähm … ja, ja. Alles in bester Ordnung. Ich kann jetzt wieder scharf sehen. Und jetzt flieg zum Planeten und such mir einen geeigneten Landeplatz. Irgendwo, wo wir nach genug an einer Besiedlung sind, aber dennoch unbemerkt bleiben. Es soll niemand mitbekommen, dass wir da sind. Noch wissen wir nicht, ob man dort unten auf Gäste eingestellt ist oder uns feindlich gegenübertritt.«
Der Computer scannte die Oberfläche und steuerte das Raumschiff schließlich auf einen kleinen Kontinent zu, der an einem größeren hing. »Ich schalte jetzt den Tarnmodus ein. Die Außenhülle wird jetzt unsichtbar. Nur wer genau hinschaut, wird in der Luft ein leichtes Flirren wahrnehmen und sie für Turbulenzen halten.«
Sie landeten in einem Park, der nur wenige Dutzend Meter von bewohnten Gebäuden entfernt war. Die Ausstiegsluke öffnete sich. Helles Licht drang nach Außen. »Das ist ja ein ganz toller Tarnmodus. Was bringt es uns, unsichtbar zu sein, wenn uns das Licht doch noch verrät?« Antares-23 sah sich vorsichtig um. Zum Glück schien es gerade tiefste Nacht zu sein. Es war dunkel. Kein Lebewesen war zu sehen. Schnell ging er die Landeklappe hinab und verschloss sein Raumschiff sorgfältig.
Er machte sich auf den Weg zum Ausgang des Parks. Sobald er zwischen den ersten Gebäuden stand, bekam er große Augen. Überall hingen Lampen. In den Fenstern, über den Straßen, selbst in Bäumen leuchtete es, als wenn irgendwas gefeiert würde.
»Seltsam. Entweder geschieht hier gerade etwas Besonderes oder dieser Planet verfügt über unendliche Energiereserven. Sollte Letzteres der Fall sein, bin ich ein klein wenig neidisch. Würde auf meiner Welt so viel Energie verbraucht werden, hätten wir große Probleme mit unserem Klima und einem gefährlichen Anstieg der Temperaturen.«
Langsam schritt er an den Gebäuden entlang, riskierte mal hier und mal dort einen Blick. Es schien, als würden in jedem Lebewesen wohnen.
»Computer!«, sprach der Captain in ein Funkgerät, welches er am Armgelenk trug. »Überall hängen hier Schilder, mal mit, mal ohne Beleuchtung. Die Schriftzeichen sind aber immer die gleichen. Kannst du mir eine Übersetzung geben?«
Der Computer bestätigte, erbat sich aber etwas mehr Zeit. Um die Sprache des Planeten übersetzen zu können, musste er erst mehr davon analysieren. Nach ein paar Minuten meldete er sich wieder. »Es scheint sich um Grußworte zu handeln. Man wünscht sich gegenseitig Fröhliche Weihnachten. Dies scheint eine Art Brauchtum oder Festivität zu sein. Worum es sich dabei handelt, musst du aber selbst herausfinden. Nimm Kontakt zu den Einheimischen auf.«
Weihnachten. Was mochte das nur bedeuten? Dieses Wort sagte ihm gar nichts. Das gab es auf anderen Welten nicht. Antares-23 war sich da ziemlich sicher. Doch wie sollte er nun vorgehen? Eine Kontaktaufnahme war ihm zu unsicher. Er hatte von Kollegen gehört, die bei einer solchen Aktion von den Einheimischen verjagt oder sogar in Kochtöpfe gesetzt worden waren. Vielleicht konnte ihm selbst noch Schlimmeres passieren. Mit seiner hellgrünen Haut und den Antennen auf dem Kopf sah er den rosafarbenen Planetenbewohnern nicht gerade ähnlich. »ich schau mich lieber heimlich um. Das reicht bestimmt auch aus.«
Antares-23 ging an großen Fenstern vorbei, in denen viele einheimische Produkte angeboten wurden. Es war eine unglaubliche Fülle an Dingen, die alle mit diesem Weihnachten in Verbindung gebracht wurden.
»Das ist alles so seltsam, Computer. Kannst du mir das genauer erklären?«
Der Computer brachte die ganzen Fakten, die sie in Erfahrung gebracht hatten, zusammen und wertete sie aus. »Offenbar ist dieses Weihnachten ein sehr bedeutendes Fest. Ich konnte leider nicht feststellen, wo der Ursprung liegt, wie es entstanden ist, aber es scheint ein sehr wichtiger Bestandteil der hiesigen Kultur zu sein. Die Lebewesen lieben es. Und sie lieben es scheinbar, sich zu dieser Zeit große Mengen an Gegenständen zu kaufen, die sie sich gegenseitig schenken. Es scheint mir, dass sie den Kommerz feiern, das ausgeben ihrer Zahlungsmittel in großer Menge.«
Antares-23 sah es auch so und war froh, dass ihn der Computer in seiner Annahme bestätigte. Und dann schüttelte es ihn. In den zivilisierten Welten der Milchstraße war es verpönt, sich dem Kaufrausch hinzugeben. Auch waren Zahlungsmittel vor längst vergangenen Tagen abgeschafft worden, denn sie sorgten nur für Ungerechtigkeit, weil Teile einer Bevölkerung reich und viele andere arm waren.
»Diese Welt gefällt mir nicht. Sie steckt ja noch im tiefsten Mittelalter, wenn sie nur an Geld denkt. Lass uns verschwinden. Zeig mir den Weg zurück zum Raumschiff.«
Er folgte einem kleinen Pfeil, der auf seinem Armband aufleuchtete. Eigentlich konnte es der Forscher nicht erwarten, sich wieder auf den Weg zu machen, sich in den Weiten des Alls wohler zu fühlen, trotzdem verleitete ihn seine Neugier immer wieder dazu, in die Fenster der Wohngebäude zu blicken. Und da entdeckte er etwas, das ihm bisher entgangen war.
Die rosafarbenen Wesen saßen in ihren Stuben zusammen. Meist stand ein bunt geschmückter Baum in der Ecke. Auf einer gedeckten Tafel standen leckere Speisen. Am meisten erstaunte ihn aber, dass sie alle zufrieden aussahen und lächelten. Sie verbrachten Zeit miteinander, spielten Spiele, sangen Lieder, lasen sich Geschichten vor, lachten, weinten vor Freude. Sie alle hatten etwas gemeinsam: sie waren überglücklich.
»Hm.« Antares-23 blieb stehen und beobachtete. »Dann ist dieses Weihnachten vielleicht doch mehr, als Geld und Geschenke? Habe ich mich in dieser Zivilisation getäuscht?« Schon wollte er weitergehen. Bis zum Raumschiff war es nicht mehr weit, da wurde eines der Fenster geöffnet.
»Hallo Fremder. Ist alles in Ordnung bei dir?« Die Person im Gebäude sah besorgt aus. »Bist du allein unterwegs?«
Antares-23 wusste zuerst nicht, wie er reagieren sollte, doch dann nickte er vorsichtig, ohne ein Wort zu sagen.
»Niemand sollte an Weihnachten allein sein. Es ist das Fest der Liebe und der Freundschaft.« Die Person lächelte. »Weißt du was? Ich lade dich zu uns ein. Ich mache dir schnell die Tür auf, dann kannst du mit uns Weihnachten feiern.«
Mit allem hatte Antares-23 gerechnet, nur nicht damit. Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Freundschaft. Das gab es zwar auch auf anderen Welten, aber nicht so bedingungslos einem Fremden gegenüber. Er nahm das Angebot dankend an und saß kurz darauf mit fünf Menschen, so nannten sie sich selbst, auf gemütlichen Sitzgelegenheiten, Lachte, weinte, hatte Spaß. Diesen Volk schien etwas ganz Besonderes zu sein, so besonders wie ihr Weihnachtsfest selbst.
»Ich möchte alles über euer Weihnachten erfahren.«, sagte Antares-23 zu später Stunde. »Dieses wunderschöne Fest muss in die Milchstraße hinausgetragen werden. Das ist etwas, das den anderen Völkern fehlt und sie miteinander verbinden und näher bringen kann.«

(c) 2023, Marco Wittler

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