1557. Schneesturm zu Weihnachten

Schneesturm zu Weihnachten

»Beeilt euch doch endlich mal. Wir müssen jetzt wirklich los, sonst kommen wir noch zu spät. Ihr wisst doch ganz genau, wie sehr Oma das hasst.«
Papa stand bereits fertig an der Haustür. Das Auto hatte er in den letzten Stunden mit Koffern, Taschen und Weihnachtsgeschenken vollgestopft und sich dabei immer wieder auf die Schulter geklopft. »Das konnte nur so gut klappen, weil ich als Jugendlicher so oft Tetris gespielt habe.«
Aber am Ende fehlte der Rest der Familie. Mama konnte ihre Handtasche nicht finden, Max suchte seit einer halben Ewigkeit hinter dem Ladekabel seiner Spielkonsole her und Pia konnte sich einfach nicht von ihrem Freund verabschieden, mit dem sie in ihrem Zimmer saß.
»Wenn ihr jetzt nicht endlich einsteigt, dann fahre ich eben allein los. Ist mir auch recht.«
Mama stürmte an ihm vorbei und verdrehte die Augen. In der Not hatte sie sich für eine andere Handtasche entschieden. »Da sind aber nicht die Hustenbonbons drin, die du so gerne lutschst. Wenn du also unterwegs zu hüsteln beginnst, mach mir keine Vorwürfe. Du hast mich gedrängelt, nicht ich dich.«
Pia, die ganz rote Augen hatte, wurde von ihrem Freund die Treppe nach unten gebracht. »Ich schenk dir noch eine Packung Taschentücher. Die wirst du bestimmt brauchen.«
Sofort fiel sie ihm um den Hals und begann erneut zu weinen. »Du bist so lieb zu mir. Ich liebe dich so sehr. Ich weiß gar nicht, wie ich drei Tage ohne dich überleben soll.«
»Die wirst du schon überleben. Oma tischt wieder reichlich auf. Da wird niemand vor Hunger umkommen.«
Papa schluckte. Schon wieder hatte er schneller gesprochen, als er nachgedacht hatte. So etwas Unsensibles hätte er sich lieber verkneifen sollen. Immerhin ging es hier um die Gefühle seiner Tochter, die nun langsam an ihm vorbeiging und es dabei gefährlich in ihren Augen blitzte. »Tut mir leid.«, entschuldigte er sich sofort. »Das war gefühllos von mir.«
Der Letzte, der der Haus verließ, war Max. »Das wird die langweiligste Autofahrt ever. Ich schwöre. Meine Spielkonsole hat nur noch für dreißig Minuten Akku. Danach muss ich euch allen leider auf den Wecker gehen.« Er ließ sich in den Sitz fallen und begann sofort zu spielen. »Hab mir vertan. Sind nur noch zwanzig Minuten. Das reicht dann wohl nur noch bis zur Autobahn.« Er gähnte gespielt. »Muss ich dann wieder Automarken raten mit Papa spielen oder lässt er mich dieses Mal damit in Ruhe?«
Die ganze Familie war gestresst. Jedes Jahr zu Weihnachten lief es so ab. Jedes Jahr wünschten sie sich aber eigentlich, etwas mehr Ruhe zu bekommen.
»Ich wünschte, wir müssten nicht durch das halbe Land fahren, um mal abschalten zu können.«, beschwerte sich Mama, die gerade versuchte, in Papas Handy die Fahrtroute einzuprogrammieren.
»Dein Wort in Gottes Ohr.«, pflichtete Papa ihr bei. »Manchmal sollte man aber mit seinen Wünschen vorsichtig sein. Man weiß nie, ob sie nicht wirklich in Erfüllung gehen und was dabei passiert.«
Er drückte den Startknopf. Der Motor sprang an. Papa setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr los.
»Sagt mal. Ist es nicht ungewöhnlich dunkel heute?« Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade zwei Uhr am frühen Nachmittag, viel zu früh für den Sonnenuntergang. Eine Antwort bekam er allerdings nicht. Max spielte, Pia sprach am Handy mit ihrem Freund, den sie bereits jetzt schmerzlichst vermisste und Mama strickte endlich den Schal, den sie bereits zum Herbstanfang fertig gehabt haben wollte.
Papa zuckte mit den Schultern und sah zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken zogen auf und versperrten komplett die Sicht auf den blauen Himmel. »Seltsam. Es war kein schlechtes Wetter gemeldet. Wo kommt denn das jetzt wieder her? Auf die Meteorologen ist auch kein Verlass mehr.«
Er klickte auf einen Knopf am Lenkrad, der mit dem Handy verbunden war und fragte nach einem aktuellen Bericht. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Für heute ist Sonnenschein gemeldet. Die Temperaturen liegen zwischen acht und zwölf Grad.«
Papa schüttelte den Kopf. Das da Draußen sah aber ganz anders aus. Er schaltete das Radio ein und suchte einen Sender, in dem gerade Nachrichten verlesen wurden.
»Kannst du das mal leiser machen?« Pia klang sauer. »Ich kann meinen Freund nicht verstehen.«
»Kommen wir nun zum Wetter.« Perfekt. Den richtigen Zeitpunkt genau abgepasst. »Heute erfreuen sich alle Landesteile über strahlend blauen Himmel und Sonnensch…«
Der Nachrichtensprecher unterbrach sich. Es blieb ein paar Sekunden still im Lautsprecher. »Hier kommt gerade eine aktuelle Meldung herein. Offenbar zieht es gerade ein Sturmtief auf. In den nächsten Stunden ist mit einem schweren Schneesturm und starken Schneefällen zu rechnen. Wer nicht unbedingt auf den Straßen unterwegs sein muss, sollte Zuhause bleiben. Es wird mit schweren Verkehrsbehinderungen gerechnet.«
»Das fehlte mir gerade noch. Prost Mahlzeit.«
Papa trat aufs Gaspedal und beschleunigte. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, so schnell wie möglich an Ziel anzukommen und dem Unwetter auszuweichen. Es gab dabei nur ein Problem. Die Fahrt führte sie direkt darauf zu. In diesem Moment wurde es noch einmal deutlich dunkler. Dann fielen die ersten Flocken.
Aus kleinen, kaum wahrnehmbaren Eiskristallen wurden immer dickere Flocken. Nach ein paar Minuten war daraus ein heftiges Schneetreiben geworden. Man konnte nur noch wenige Meter weit blicken. Mittlerweile fuhr Papa nur noch sehr langsam. Ihm war das Risiko zu groß, einen Unfall zu bauen. An einer Bergkuppe war dann plötzlich Schluss. Der Schnee lag so hoch, dass mehrere Lastwagen nicht mehr weiterkamen. Dadurch musste auch Papa stehenbleiben.
Was nun? Umdrehen und zurück? Auf keinen Fall. Auf der Autobahn erstens verboten und zweitens hatten nachfolgende Fahrzeuge bereits den Weg versperrt. »Sowas kann aber auch nur uns passieren.«
Mama lachte heiser. »Was heißt denn hier uns? Schau dich doch mal um. Hier stehen dutzende Autos. Es trifft uns nicht allein.«
»Hoffentlich ist es bald wieder vorbei.«
Nein. Der Schneesturm ging nicht schnell vorbei. Ganze Zwei Stunden schneite es ohne Pause, in der der Wind die Flocken unbarmherzig vor sich her trieb und langsam, aber sicher, um die Fahrzeuge aufschichtete. Nun war überhaupt nicht mehr an ein Weiterkommen zu denken. Dafür musste die Autobahn erst geräumt werden. Und dann verschwand der Sturm so schnell, wie er gekommen war.
»Ist das nicht irgendwie herrlich?«, fragte Papa plötzlich. »Der Schnee schluckt alle Geräusche. Ich meine, stellt euch doch mal vor, wir sind hier auf der Autobahn und es ist so still.«
Mama legte ihr Strickzeug weg und lauschte. »Du hast Recht. Ich höre keine Autos, keinen Wind, da ist einfach nichts. Das hätte ich gern mal Zuhause.« Sie lächelte zum ersten Mal an seit den letzten Tagen. Sie waren zwar eingeschneit, kamen nicht weiter, aber dafür wirkte sie endlich wieder glücklich.
»Ich muss mal eben auflegen.« Pia drückte ihren Freund weg und sah sich das erste Mal um. »Und es sieht alles so wunderschön und friedlich aus. Schaut euch doch mal die Bäume an. Da liegt der Schnee so dick auf den Ästen. Sowas hab ich noch nie in meinem Leben vorher gesehen.
»Machen wir eine Schneeballschlacht?« Max drückte auf den Knopf in der Tür. Das Fenster schob sich langsam nach unten.
»Nein! Lass das!« Zu spät. Der aufgehäufte Schnee kam zu einem Teil ins Auto.
»Egal. Lasst uns aussteigen.« Max kletterte nach draußen und ließ vorwärts in den frischen Schnee fallen, bis er nicht mehr zu sehen war. »Ist das cool!«, hörten ihn die anderen leise sagen. »Das wird der tiefste Schneeengel, den ich jemals gemacht habe.«
Pia stieg nun auch aus und kämpfte sich langsam durch die weißen Massen vorwärts. Das sahen nun auch die anderen Familien in ihren Autos und taten es ihr gleich. Was konnte schon auf einer Autobahn geschehen, auf der eh niemand mehr vorwärts kam.
Die Kinder bauten sich Schutzwälle, begannen mit einer großen Schneeballschlacht, in der die Wurfgeschosse in alle Richtungen flogen. Lautes Gelächter war überall zu hören. Manche bauten riesige Schneemänner und bekleideten sie mit Jacken und Mützen aus ihren Kofferräumen.
Irgendwann riss auch die Wolkendecke wieder auf und gab den Blick auf einen wunderschönen Sternenhimmel frei. Da sie sich mitten im Nirgendwo befanden, weit weg von den nächsten Städten, konnte man sogar die Milchstraße als breites Band am Firmament erkennen. Ein einzelner Stern leuchtete dort oben besonders hell. »Das muss der Weihnachtsstern sein. Das kann gar nicht anders sein. Wer sollte sonst in so einer verrückten Situation über uns funkeln.«
Die Menschen, die nun schon so lange auf der Autobahn gefangen waren, rückten näher zusammen. Die einen verteilten leckere Kekse und Plätzchen, andere hatten noch warmen Tee in Thermoskannen übrig. Wer noch genug Akku hatte, hielt sein leuchtendes Handy in die Höhe. Sie wünschten sich gegenseitig frohe Weihnachten, lachten, hackten sich unter. Irgendwer stimmte ein Weihnachtslied an, alle anderen schlossen sich an.
Und dann näherten sich neue Lichter. Sie blickten grell orange. Der Räumdienst war auf dem Weg.
»Das ist das beste Weihnachten, dass ich in meinem ganzen Leben erlebt habe. Das ist das erste Mal, dass ich das Fest ohne Stress, dafür mit ganz viel Ruhe und mit tollen Menschen feiere.« Papa winkte seine Familie zu sich, drückte sie alle an sich und hoffte insgeheim, dass dieser Moment niemals enden würde. Wer hätte gedacht, dass ein einfacher, kleiner Wunsch um Ruhe so verrückte Auswirkungen hätte haben können.

(c) 2023, Marco Wittler

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