1595. Großer Schatten

Großer Schatten

»Links, zwo, drei, vier. Links, zwo, drei, vier, Links, zwo, drei, vier.« Der Oberst drehte sich um, nahm die Truppe genau ins Visier. »Nur nicht müde werden. Immer schön in Reih und Glied bleiben. Kommt ihr aus dem Takt, erzeugen wir nur einen unnötigen Stau, der uns alle viel Zeit kosten wird.«
Gehorsam marschierten die vielen Ameisen durch den Wald. Sie hatten den Bau verlassen, um ein paar in der Nähe herabgefallene Früchte zu zerteilen und mit ihnen die Vorratsspeicher zu füllen. Auch wenn der Kalender noch Frühling zeigte, musste für den kommenden Winter vorgesorgt werden. Jede noch so kleine Verzögerung konnte eine Hungersnot bedeuten.
Die kleinen Insekten umrundeten dicke Stümpfe, kletterten über umgestürzte Bäume hinweg, durchquerten dichte Büsche und bauten lebende Brücke, um Bäche zu überwinden.
Plötzlich hob der Oberst die rechte Hand über seinen Kopf hinweg und legte den Zeigefinger seiner linken an seine Lippen.
»Pst! Leise. Irgendwas stimmt hier nicht. Wir sind nicht allein.«
Er sah sich suchend um, während er die ängstlichen Blicke seiner Truppe im Nacken spürte. Angst machte sich breit. Bestand Gefahr? Würde jeden Moment ein großes Tier aus seinem Versteck springen und die kleinen Insekten fressen?
Der Oberst schluckte schwer, als er sich des Schattens bewusst wurde, in dem sie standen. Er sah auf. Der Schatten stammte von einem riesigen Tier, dessen Kopf in den Baumkronen versteckt zu sein schien.
»Das ist ein Monster. Schnell weg von hier! Und verhaltet euch so leise es nur geht.«
Sie schlichen auf ihren kleinen Füßen weiter, bis sie eines der mächtigen Beine erreichten. Noch einmal hielt der Oberst den Trupp an. Vorsichtig trat er an da Bein heran und legte seine Hand darauf. Es war rau, rissig, hatte tiefe Furchen.
Er atmete tief auf, begann zu lachen. »Das ist gar kein Tier. Das ist nur eine mächtige Eiche. Das erkenne ich an der Rinde.« Die Ameisen stimmten erleichtert in das Lachen ein, bevor sie ihren Weg fortsetzten.
Irgendwann waren sie verschwunden, hatten sich wohl bei den süßen Beeren versammelt, da war ein erleichtertes Seufzen in den Baumkronen zu vernehmen. Ein riesiger Rüssel senkte sich herab, gefolgt von einem mächtigen Schädel. Der Elefant, der sich bis gerade eben versteckt gehalten hatte, atmete nun ebenfalls so erleichtert auf, wie es zuvor die Ameisen getan hatten.
»Puh! Noch einmal Glück gehabt. Die kleinen Krabbelviecher haben mich nicht entdeckt. Wenn ich nur daran denke, dass ich beinahe auf sie getreten wäre, gruselt es mich. Die kitzeln immer so sehr an den Füßen, dass ich es vor Lachen nicht aushalte.«

(c) 2024, Marco Wittler

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