1612. Durch den Hintereingang ist es sicherer

Durch den Hintereingang ist es sicherer

Es war mitten in der Nacht, als es an der Tür klopfte. Willi Borkenflink, der noch tief und fest unter seiner Decke schlief, drehte sich gestört um.
Es klopfte ein weiteres Mal. Willi griff zum Kissen und versteckte seinen Kopf darunter, wurde aber wenige Sekunden später durch ein weiteres Klopfen endgültig aus dem Schlaf gerissen.
»Ist ja schon gut. Ich komme sofort.« Müde kroch er aus den Federn und schlurfte in seinen viel zu großen Pantoffeln zur Hintertür seiner kleinen Behausung, die sich unter der Wurzel eines alten, knorrigen Baums befand.
Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass Willi nicht irgendwer war. Er war ein Wichtel, der sich im um Blumen, Kräuter und alle anderen Pflanzen kümmerte.
Willi drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und verspürte plötzlich einen Schmerz auf seiner Nase. Wer auch immer bisher gegen die Tür geklopft hatte, tat dies nun im Gesicht des Wichtels.
»Autsch! Verdammt! Lass das sein!«
»Verzeih mir bitte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du zu dieser späten Stunde so früh öffnen wirst.«
Willi rieb sich über die Nase und sah erst jetzt, wer ihn so unsanft getroffen hatte. »Du? Was machst du denn hier?«
Leni Lichttänzer, eine Wichtelin und beste Freundin von Willi, lächelte schief. »Hast du vergessen, dass du mich eingeladen hast, mir dein neues Heim anzuschauen? Ich hatte gerade Zeit und war neugierig.«
Willi blickte sie ungläubig an. »Aber doch nicht mitten in der Nacht. Das macht man nicht.«
Leni zuckte mit den Schultern. »Ich wollte schon eher hier sein, aber es gab nur eine Verbindung mit der Schneckenkutsche. Deswegen bin ich jetzt erst angekommen.«
Willi nickte, bat seine Freundin herein und führte sie herum. »Hinter dieser Tür befindet übrigens mein Schlafzimmer. Eigentlich liege ich dort um diese Zeit im Bett und schnarche ganz laut.« Er bemerkte die, wie Lenis Wangen erröteten, also grinste er schnell. »Für eine liebe Besucherin stehe ich aber gern auf.«
Irgendwann machten sie es sich in der Küche bequem, tranken einen heißen Kakao und redeten.
»Hast du jemals eine Entscheidung bereut, die Stadt zu verlassen? Der Wald ist so riesig. Es gibt unendlich viele Gefahren. Bestimmt begegnet man hinter jeder Ecke einem gefräßigen Tier mit langen, spitzen Zähnen.«
Willi Borkenflink musste nicht lange nachdenken und schüttelte sofort den Kopf. »Es hat mir einfach keinen Spaß mehr gemacht, als Heinzelmann den Menschen ihren Kram zu erledigen. Außerdem mag ich die Natur viel zu sehr. Davon gibt es in der Stadt einfach viel zu wenig.«
»Und was ist mit der Angst, als Abendessen zu enden?« Leni Lichttänzer bohrte weiter. Insgeheim hoffte sie, ihren Freund doch noch zu einer Rückkehr bewegen zu können.
»Ich habe keine Angst. Ich muss auch keine Angst haben, denn die gefährlichen Tiere fürchten mich, weil sie mich nicht kennen. Komm mal mit, ich zeige dir etwas.«
Er führte seine Besucherin einen langen Flur entlang, an dessen Ende er eine Tür öffnete. Dahinter befand sich ein Raum, der für jeden Wichtel riesig wirkte. Dort standen ein Tisch und Stühle, auf denen bequem ein Riese mit seiner Familie hätte Platz nehmen können. Nun kletterte Willi auf einen der Stühle, breitete seine Arme aus und begann zu lachen. »Sie alle sehen nur diesen Raum durch die Fenster. Sie alle fürchten die Riesen, die hier leben, auch wenn es sie gar nicht gibt. Deswegen habe ich dir den Weg zu meinem geheimen Hintereingang verraten. Den kennen nur meine allerbesten Freunde. Ich wollte dich schließlich nicht mit meiner Identität als Scheinriese in Angst und Schrecken versetzen.«

(c) 2024, Marco Wittler

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