Wer schleimen kann ist klar im Vorteil
»Du kleiner, winziger Gnom.« Grantel Eisenstiefel trat den alten Blecheimer, der sich vor seinen Füßen befand, zur Seite. Er stemmte die behandschuhten Hände in die Seiten und begann laut zu lachen.
»Ich bin kein Gnom, ich bin ein Wichtel.«, entgegnete Willi Borkenflink dem Zwerg, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Ein Wichtel? Du bist so klein wie mein Daumen. Das reicht nicht zu einem Wichtel. Für mich bist du nur ein Wicht.«
Willi ließ die Zeitung, in der er bis gerade noch gelesen hatte, langsam sinken und blickte über die Seiten hinweg.
»Warum bist du immer so fies zu mir, wenn wir uns über den Weg laufen? Ich habe die Stadt extra hinter mir gelassen, damit ich deinen Groll nicht mehr ertragen muss. Warum also bist du zu mir gekommen?«
Grantel kam näher, riss dem Wichtel die Zeitung aus den Händen und knüllte sie zusammen. »Ich will dir ein für alle Mal zeigen, dass ich ein richtiger Kerl bin und nicht so ein verweichlichter Wicht, der nur die Nase in diese lächerlichen Druckwerke stecken kann. Ich fordere dich zu einem Wettkampf heraus.« Der Zwerg streckte seinen Arm aus und zeigte auf das flinke Wiesel, dass hinter ihm wartete und bereits ungeduldig mit den Pfoten scharrte. »Wer als Erster das andere Ende des Waldes erreicht, ist ein richtiger Kerl, der Verlierer nur ein, ein …« Grantel Eisenstiefel wollte keine passende Beleidigung einfallen. »Der ist eben ein Verlierer.«
Willi Borkenflink seufzte. »Ich mache nur unter einer Bedingung mit. Wenn ich gewinne, wirst du den Wald sofort verlassen und mich nie wieder belästigen.«
»Abgemacht!« Der Zwerg griff nach der Hand des Wichtels und schüttelte sie. »Du hast die freie Wahl deines Reittiers. Lass dir aber gesagt sein, das meines seit Jahren ungeschlagen ist. Du kannst nicht gegen mich gewinnen.«
Willi nickte stumm, blickte sich um und zeigte auf eine große Weinbergschnecke. »Hallo Serafina, was hältst du von einem kleinen Wettrennen? Wir Beiden gegen den Zwerg und sein Wiesel.«
Mit großen Augen betrachtete Serafina Weinbergschnecke das schlanke Reittier und sagte nach einer kurzen Bedenkzeit zu. »Den schlagen wir mit Links.«, antwortete sie in einem sehr ruhigen Tonfall. »Komm, Willi. Setz dich auf mein Haus. Ich bringe dich schnell wie ein Lufthauch ans Ziel.«
Grantel Eisenfaust hielt sich vor Lachen den Bauch, bevor er sich in seinen Sattel setzte. Er wusste genau, dass er gegen eine Schnecke nicht verlieren konnte. »Drei, zwei, eins, Los!« Er achtete nicht darauf, ob sein Gegner schon bereit war. Er gab seinem Wiesel das Startkommando. Sie verschwanden wie ein Blitz zwischen den Bäumen.
»Werden wir ihn wirklich noch einholen und besiegen oder möchtest du gleich wieder absteigen und aufgeben?« Serafina war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt in Bewegung setzen und sich den anstrengenden Weg durch den Wald antun sollte, doch Willi Borkenflink war zuversichtlich. Er sah auf seine Taschenuhr. »Warte noch eine Minute.«
Plötzlich wurde es im Wald dunkler. Über den grünen Wipfeln zogen sich die Wolken zu, verdeckten die strahlende Sonne. Es blitzte, es donnerte. Als hätte jemand die Schleusen eines Stausees geöffnet, begann es nicht nur zu regnen. Es schüttete. Schnell wurde der Waldboden nass und matschig. Erste Rinnsale bildeten sich auf den Wegen und verwandelten sich alsbald in kleine Bäche.
»Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Mit deinem Schneckenschleim können wir über die flachen Bäche gleiten. Wir können den Wald ganz ohne Kraft und Mühen durchqueren. Wenn wir Glück haben, gewinnen wir sogar das Wettrennen. Hätte der Zwerg auch mal seine Nase in die Zeitung gesteckt, hätte er vielleicht den Wetterbericht gesehen. Heute ist wahrlich kein guter Tag, um zu Fuß unterwegs zu sein.« Willi lachte und verzog sich in das trockene Schneckenhaus. Durch ein kleines Fenster sah er zu, wie Serafina durch den Wald glitt.
Sie umrundeten manch Busch und Baum, durchquerten mehrere Pfützen, bis sie den Zwerg und sein Wiesel entdeckten. Grantel Eisenstiefel fluchte und schimpfte so laut, dass man ihn noch über die Grenzen des Waldes hinaus hören musste.
Nicht nur sein Wiesel, auch er selbst steckte bis zu den Knien im Schlamm und konnte sich keinen Schritt mehr fortbewegen. Mit hochrotem Kopf sah er zu, wie Serafina und Willi winkend an ihm vorbei glitten. Nur kurz steckte der Wichtel seinen Kopf aus dem Fenster. »Und denke bitte daran, dass du meinen Wald wie abgemacht verlässt, sobald du dich aus dem Schlamm befreit hast.«
Das ließ den Zwerg nur noch mehr fluchen. Gesehen hatte ihn Willi Borkenflink nach diesem Tag aber nicht mehr an diesem Ort.
(c) 2024, Marco Wittler
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