1621. Roselotte Brombeergeist geht ihren eigenen Weg

Roselotte Brombeergeist geht ihren eigenen Weg

Es war eine tiefe, dunkle Nacht. Schwere Wolken ließen keinen einzigen Funken Licht zur Erde hindurch. Überall herrschte absolute Finsternis.
In der Ferne grummelte es. Ein Wetter kündigte sich an. Es dauerte nicht mehr lange, bis der erste Blitz den Himmel durchfuhr und für einen kurzen Augenblick die Wolkendecke zerriss. Der Vollmond gab sich alle Mühe und schickte sein Licht auf eine kleine Waldlichtung herab, wo es mehrere Blumen streifte, bevor es wieder verschwand.
Die weißen Blüten öffneten sich, wodurch ihre Bewohner erwachten. Kleine leicht glimmende Ärmchen reckten sich in die Höhe. Es wurde im Chor gegähnt. Die kleinen Waldgeister erwachten.
»Oh, oh.« Der Erste Geist sah die Blitze und hörte den Donner. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis es wie aus Waschzubern gießt. Wir müssen hier verschwinden. Unsere Blüten werden bestimmt bis zum Rand voll Wasser laufen.«
Die Geister schwebten empor, folgten ihm. Nur ein kleines Geistermädchen schnarchte gemütlich unter ihrer Decke.
»Roselotte Brombeergeist, wach auf. Wir müssen hier weg!«
Es war nicht die Warnung, die Roselotte aus dem Schlaf riss, es war der Umstand, dass man sie bei ihrem Geburtsnamen gerufen hatte. Sie sprang auf. Zornesröte stieg in ihre Wangen. »Ihr sollt mich nicht so nennen. Mein Name ist Lotti.«
Sie sah auf, entdeckte die Wolken und schluckte ihren Ärger herunter. »Ich komme.«
Während die anderen Geister über die Lichtung schwebten, musste Lotti zu Boden klettern und mit ihren schweren Stiefeln zwischen den Grashalmen ihren Weg suchen. Das war ihrer Ungeduld geschuldet. Sie war damals zu früh geboren worden, konnte deshalb weder schweben, noch Wände durchdringen.
Ein Blitz fuhr herab, schlug in einen Baum ein. Der Donner folgte ihm auf Fuß. Nun öffneten die Wolken ihre Schleusentore. Es begann nicht zu regnen, es schüttete. Binnen weniger Augenblicke wurde die Lichtung geflutet. Der trockene Boden konnte diese großen Wassermengen gar nicht so schnell aufnehmen.
»Hilfe! Ich komme hier nicht weiter.«
Lotti stand schon bis zu den Knien im Wasser. Sie wusste, dass sie zurück in ihre Blüte klettern musste, um nicht zu ertrinken. Während sie sich den Blumenstängel hinauf mühte, überlegte sie. Konnten Geister überhaupt ertrinken? Konnte es ihr passieren? Immerhin fehlten ihr noch andere Geistertalente. »Nur kein Risiko eingehen.«
Das Wasser stieg immer weiter. Schon hatte es den unteren Rand der Blüte erreicht. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Lottis Schlafplatz komplett in den Wogen verschwand.
Das Geistermädchen sah sich verzweifelt um. Sie musste weg. Nur wie?
Sie griff zum Kochlöffel, der bisher unbenutzt in der Ecke lag. Wie sollte man auch etwas Leckeres Kochen, wenn in der Blüte kein Platz für einen Herd war?
Lotti legte den Löffel auf das Wasser, sprang hinein und ließ sich vom Wasser forttreiben. Nur einen Augenaufschlag später verschwand ihre Blume in den Fluten.
»Haha! Du Unwetter kannst mir nichts. Du wirst mich niemals kriegen. Piratin Lotti trotzt dem Tod und allen Geistern der See.«
Sie griff nach einem Grashalm, der auf dem Wasser schwamm und hielt ihn in die Höhe. »Komm nur, komm her! Mit meinem Schwert werde ich jeden Blitz in den Himmel zurückschlagen.«
Wie auf ein Stichwort kam ein Blitz, schlug eine Hand breit neben dem Schöpflöffel ein und brachte das Wasser zum Kochen. Lotti ließ den Grashalm fallen und duckte sich. »Ist schon gut. Kannst du keine Scherze verstehen?«
Sie hielt sich an ihrem ungewöhnlichen Boot fest und achtete darauf, sicher durch den Wald gespült zu werden, ohne an einem Baum anstoßen. Erst beim Morgengrauen ließ das Unwetter nach. Der Himmel klarte auf, das Wasser verschwand. Lotti schulterte den Löffel und machte sich zu Fuß auf den Heimweg.

(c) 2024, Marco Wittler

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