1620. Roselotte Brombeergeist denkt groß

Roselotte Brombeergeist denkt groß

Die Nacht hatte sich über den großen Wald gelegt. Doch dieses Mal waren keine Sterne zu sehen. Dicke Wolken hatten sich über den Himmel geschoben und ließen kaum die eigene Hand vor Augen erkennen. Nun ja. Das galt natürlich nur für menschliche Hände. Geisterhände, ja eigentlich ganze Geisterkörper hingegen glommen immer ein wenig. Die hätte man sogar in einer tiefen Höhle prima sehen können.
In weiter Ferne schlug ein Klöppel in einer Kirchenglocke. Eins, zwei, drei, … erst bei zwölf gab er wieder Ruhe. Die Geisterstunde hatte begonnen. Und wäre es nicht ein unglaublicher Zufall gewesen, man hätte behaupten können, es hätte mit dieser besonderen Uhrzeit zu tun gehabt, denn in diesem Moment riss die Wolkendecke ein klein wenig auf. Durch einen schmalen riss schlich sich ein Strahl des Mondes hindurch und traf auf einer Lichtung, die sich in der Mitte des Waldes befand, eine kleine Blume, die augenblicklich ihre Blüte öffnete.
Kleine glimmende Geisterhände streckten sich in die Höhe und wurden von einem lauten Gähnen begleitet. Roselotte Brombeergeist, die es gar nicht mochte, bei ihrem Namen gerufen zu werden, wurde wach. Lotti, wie sie beinahe jeder nannte, kletterte zum Boden hinab. Die letzten Zentimeter sprang sie und hinterließ tiefe Spuren mit ihren schweren Stiefeln.
»Ach, was ist das für eine langweilige Nacht. Die Sterne sind nicht da und der Mondstrahl verschwindet auch schon wieder. Eigentlich sollte ein Geist bei diesem Wetter nicht wach werden. Ich glaube, ich gehe einfach wieder schlafen.«
Schon wollte Lotti wieder an ihrer Blume hinaufklettern, als ein grüner Schwarm kleiner Lichter mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei flog. Dicht dahinter folgte eine große Fledermaus mit weit geöffnetem Maul.
»Hey, du Rüpel. Meine Freunde werden nicht gefressen.«
Lotti winkte die kleinen Leuchtkäfer zu sich und nahm sie zum Schutz in ihrem Körper auf.
Die Fledermaus war zuerst irritiert. Doch dann begann sie das Geistermädchen in immer engeren Kreisen zu umfliegen.
»Lass mein Abendessen frei. Du kannst sie eh nicht für immer beschützen. Am Ende schaue ich vielleicht nicht richtig hin und fresse die versehentlich ebenfalls. Du schaust nämlich aus wie ein fluffiger Marshmallow. Am Ende schmeckt du auch so lecker.«
Lottis Augen verengten sich. Sie wurde wütend. »Das werden wir ja sehen.« Sie holte ganz tief Luft, steckte sich den Daumen in den Mund und blies aus Leibeskräften dagegen. Ihr Körper dehnte sich aus wie ein Luftballon, wurde größer und größer, bis das Geistermädchen die Fledermaus an Größe übertraf.
Lotti blickte ihr Gegenüber grimmig an und begann zu lachen. Ihre Stimme war nun so tief wie die eines Riesen. Die Fledermaus erschrak, bekam Angst nun selbst als Futter zu enden und suchte schnell das Weite.
Lotti hingeben ließ nun die aufgestaute Luft wieder ab, schrumpfte auf normale Größe zurück und kicherte leise. Die Glühwürmchen kamen wieder ins Freie. »Vorsicht! Das kitzelt.«
Die kleinen Glühwürmchen bedankten sich für die selbstlose Hilfe und sorgten für den Rest der Nacht für grünlich leuchtendes Sternenlicht. Sie setzten sich in die Baumkronen und spendeten Lotti ihr Licht, um gemütlich wieder einschlafen zu können.

(c) 2024, Marco Wittler

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