1624. Roselotte Brombeergeist geht zur Schule

Roselotte Brombeergeist geht zur Schule

Roselotte Brombeergeist hatte den Tag über kein Augen zumachen können, zu sehr nagte die Aufregung an ihr. In dieser Nacht, sollte sie zum ersten Mal gemeinsam mit anderen Wesen der Dunkelheit die Schulbank drücken.
Ununterbrochen marschierte sie in ihrer Blume auf und ab, zählte immer wieder die wenigen weißen Blätter, die sie umgaben und hinterließ sicherlich einige Spuren auf dem Blütenboden.
Die Sonne ging unter, färbte den Himmel knapp über dem Horizont für eine Weile orange, bis es langsam dunkel wurde und erste Sterne erschienen.
»Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. Gleich muss es einfach so weit sein.«
Tatsächlich ging in diesem Moment der Mond auf, schob sich zum Firmament hinauf und warf einen ersten Lichtstrahl in die kleine Waldlichtung unter sich.
Roselotte Brombeergeist jubelte, schnappte sich ihren Rucksack und kletterte am Stängel ihrer Blume zum Boden hinab. Mit großen Schritten verließ sie die Lichtung, ging tiefer in den Wald hinein, bis sie vor einem großen, hohlen Baumstamm ankam.
Das kleine Geistermädchen grinste breit. »Ab jetzt bin ich ein Schulkind und ich werde alles über die Nachtseite der Welt kennenlernen.« Dann ging sie hinein.
Vor ihr tat sich ein großer Raum auf. An den Wänden hingen Bilder und Karten. In einem Regal stapelten sich Bücher mit all dem Wissen zwischen Tag und Nacht.
»Ich bin hier! Wir können beginnen.«
Nach und nach füllte sich der Raum. Weitere Schüler trafen ein. Ein Geist durchdrang die Wand und blieb zur Hälfte in ihr. Lediglich Kopf und Arme waren zu sehen. Eine junge Hexe flog auf ihrem Besen durch die Tür und machte es sich auf ihm unter der Decke gemütlich. Ein Untoter schlurfte auf dünnen Beinen herein, kippte in der Ecke um und blieb einfach liegen. Ein klapperndes Geräusch kündigte ein Skelett an, das kurz hinter dem Eingang zerfiel und als Haufen Knochen blieb wo es war. Jedes Wesen fand auf diese Weise einen Platz, der zu seiner Art passte. Nur Roselotte Brombeergeist wusste nicht, wohin mit sich. Ihr fehlten ein Stuhl und ein Tisch.
»Gute Nacht, gute Nacht, wehrte Wissbegierige.« Ein Geist von stattlicher Größe kam herein geschwebt. Sein durchscheinender Körper verharrte mitten im Raum. Seine Augen, die sich in der Mitte seines Kopfes zu befinden schienen, erweckten den Eindruck, jedes Wesen gleichzeitig zu beobachten.
»Wie ich sehe, seid ihr alle bereits angekommen und habt eure Plätze eingenommen. Schön, schön, schön.« Doch dann fixierte er das Geistermädchen. »Was ist mit dir? Du stehst herum, als gehörtest du nicht hierher, wie bestellt und nicht abgeholt. Von welcher Art bist du? Gehörst du etwa zu den Sterblichen?«
Roselotte Brombeergeist stemmte die Arme in ihre Seiten. »Ich heiße Lotti und bin ein waschechtes Geistermädchen.« Sie blickte auf ihre schweren Stiefel hinab. »Ich bin nur nicht, wie die anderen. Ich hatte es bei meiner Geburt etwas eilig. Deswegen kann ich nicht schweben und nicht durch Wände gehen.«
»Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Professor Winston.« Er musterte Lotti von oben bis unten. »Wenn du kein vollständiger Geist bist, dann komm einfach wieder, wenn dein Körper vollendet ist und du dir in meiner Schule einen passenden Platz suchen kannst.«
Lotti verdrehte die Augen. »Ich bin ein Geist. Schluss. Aus. Basta. Und das lasse ich mir von niemandem schlechtreden.«
Sie stapfte auf den Ausgang zu, drehte sich ein letztes Mal um. »Ich komme wieder, und das wird schneller sein, als ihnen lieb ist. Ich bin das Geistermädchen Lotti und werde mir etwas einfallen lassen.«
Sie verließ die Schule. Professor Winston begann mit der ersten Unterrichtsstunde. Er sprach zu seinen Schülern über den Unterschied zwischen Tag und Nacht, zwischen Licht und Dunkelheit und wollte gerade erklären, was Hexen und Zauberer gemeinsam hatten, als sich erneut die Schultür öffnete. Ein riesiger Fuß setzte sich in den Raum und brachte den Boden zum Beben. Er war über und über mit blauen Haaren bedeckt. Ihm folgte ein Monster mit langen, spitzen Zähnen. Es legte sich in der Mitte auf den Boden und schlief grunzend ein.
Erst jetzt fiel den anderen Schülern und Professor Winston auf, dass auf dem Rücken des Monsters ein kleines Geistermädchen mit schweren Stiefeln an den Füßen saß. Es hielt sich vor Lachen Bauch.
»Ich glaube, ich habe meinen Platz gefunden. Darf ich jetzt hier bleiben?«
Professor Winston grinste und nickte. »Dann habe ich dich richtig eingeschätzt. Ich wusste gleich, dass du dich nicht einfach vertreiben lässt und deinen eigenen Weg in die Welt der Dunkelheit finden wirst. Willkommen in Winstons Geisterschule. Willkommen kleines Geistermädchen Lotti. Lass uns mit dem Unterricht beginnen.

(c) 2024, Marco Wittler

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