1628. Die tote Prinzessin

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Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Die tote Prinzessin

»Euer Majestät.« Eine Stimme, die sich ganz in der Nähe seines Ohres befand, flüsterte ihm zu. »Euer Majestät, es ist Zeit aufzustehen. Ihr werdet noch die ganze Nacht verschlafen.«
Der Prinz gähnte laut, streckte alle Viere von sich und öffnete langsam die Augen. Er blickte zum Fenster. Tatsächlich war es draußen dunkel. Nur die Sterne funkelten am Himmel und hielten den Platz frei für den Vollmond, der gerade hinter dem nahen Wald aufging.
»Ist es schon wieder so weit? Ist wieder eine dieser Nächte?«, vergewisserte er sich.
Sein Diener nickte zur Bestätigung und reichte ihm die Abendzeitung, die er im nahen Dorf besorgt hatte. »Werft einen Blick hier hinein. Vielleicht findet ihr etwas, das euch reizt, euch herausfordert.«
Der Prinz richtete sich auf, nahm die Zeitung entgegen und und überflog die Überschriften. Jahreshauptversammlung der Zwerge im alten Bergwerk, Streik der Feengewerkschaft, der alte Drache, der seit Urzeiten einen Goldschatz im Gebirge bewachte, vermisste eine seiner Schuppen und lobte eine Belohnung für den ehrlichen Finder aus. Der große Preis der Alchemisten ging in diesem Jahr erstmals an einen Oger. Das Hexentreffen am Blocksberg musste wegen des schlechten Wetters abgesagt werden. Im dichten Schneetreiben hatte es bereits mehrere Unfälle beim Anflug gegeben.
»Ach, das ist alles nichts für mich. Alles unwichtiger Kleinkram. Ich brauche etwas Interessanteres, eine echte Herausforderung. Ich will …« Er beendete seinen laut ausgesprochenen Gedanken nicht mehr, als er die letzte Seite erreichte. In den Todesanzeigen stand in großen Buchstaben ein Name, der im gesamten Märchenland für Aufsehen gesorgt hatte. Schneewittchen, die Schönste von allen, hatte das Zeitliche gesegnet. Sie war aus unerklärlichen Gründen verstorben und wurde nun von ihren sieben Mitbewohnern hinter den sieben Bergen aufgebahrt. »Dann ist das wohl meine letzte Chance, sie einmal zu Gesicht zu bekommen. Vielleicht ist das auch genau die Herausforderung, die ich gesucht habe.« Der Prinz lächelte spitzbübisch. »Lasst mein Pferd satteln. Ich reite noch heute Nacht hinter die sieben Berge und hoffe, vor Sonnenaufgang Schneewittchen gefunden zu haben.«
Er ritt so schnell, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihm her. Sein Pferd machte große Schritte, sprang über Stock und Stein und ließ alle bekannten Berge und tiefen Täler hinter sich. Es ging quer durch deinen dunklen Wald, dessen Baumkronen das Licht der Sterne und des Mondes kaum passieren ließen. Mehr als einmal geriet der Reiter in eine Sackgasse. Und doch erreichte er sein Ziel, bevor der erste Lichtstrahl sich anschickte, den Himmel für die Sonne für einen Tag zu erobern.
Der Prinz stieg aus seinem Sattel. Der gläserne Sarg war von sieben kleinen Gestalten umringt, die alle dunkle Roben mit langen Kapuzen trugen.
»Wenn ihr die sieben Zwerge seit, dann muss dies Schneewittchen sein. Ist das richtig?«
Sie antworteten nicht mit Worten. Stattdessen traten sie beiseite und luden den Gast dazu ein, näher zu kommen. Der Prinz blickte voller Ehrfurcht auf die Tote herab. Sie war noch schöner, als jede Beschreibung von ihr, die er gehört oder gelesen hatte.
»Ich …« Ihm stockte der Atem. »Ich kann nicht anders. Ich muss es einfach tun.« er hob den Deckel an, legte ihn neben dem Sarg auf dem Waldboden ab. »Ich muss sie einfach küssen.« Er beugte sich herunter. Noch ehe seine Lippen die ihren berührten, stahl sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht.Etwas geschah mit ihm. Hatte er sich während der Ritts durch die Nacht mit Mühe und Not kontrollieren können, ließ er nun seiner Natur freien Lauf. Mund und Nase wuchsen aus seinem Gesicht heraus. Sein ganzer Körper bedeckte sich mit Fell. Seine Ohren wurden lang und länger, während die Fingernägel zu Krallen wurden. Der Werwolf im Prinzen hatte die Kontrolle übernommen.
»Nur ein kleiner Biss, ein ganz kleiner, dann gehörst du mir.« Ob sie sich trotz ihres Todes noch in seine Artgenossin verwandeln würde? Er musste es unbedingt herausfinden.
Da packten ihn zwei kräftige Hände an den Schultern und zogen in tiefer in den Sarg hinein. »Nur ein kleiner Biss in den Hals, dann gehörst du für immer mir. »Schneewittchen ließ ihre messerscharfen Vampirzähne im Licht des Mondes aufblitzen. Doch als sie in die Augen des Prinzen blickte, stutzte sie, wie es auch der Prinz in diesem Moment tat.
»Hä? Du? Hier?« Sie sprachen wie aus einem Munde und begannen zu lachen.
Schneewittchen lockerte ihren Griff, das Gesichtsfell des Prinzen lief rot an.
»Warum musst du ausgerechnet hier auftauchen?«, fragte sie neugierig. »Jetzt hab ich mir schon so eine geniale Falle ausgedacht, da musst du mir alles kaputt machen.«
Der Prinz strich sich verlegen über den Nacken und lächelte. »Da finde ich endlich mal eine Herausforderung in der Zeitung und dann bist es ausgerechnet du. Wie sollen wir denn jemals unseren Wettstreit gewinnen, wenn wir wir uns nur gegenseitig antreffen?«
Sie lachten. Die Jagd nach Sterblichen, die sie ihren Armeen der Finsternis hinzufügen, die sie durch gezielte Bisse zu Ihresgleichen machen konnten, blieb mal wieder bei einem Null zu Null unentschieden.
»Was hältst du davon, wenn wir uns eine schicke Spelunke in der Nähe suchen und die restliche Nacht gemeinsam bei einer Flasche Blutwein verbringen?« Der Prinz hielt Schneewittchen eine Hand einladend hin.
»Abgemacht!« Sie griff zu, ließ sich aus dem Sarg helfen. »Du bezahlst!«

(c) 2024, Marco Wittler

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