1650. Die Geister der Nacht

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Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Die Geister der Nacht

Jedes Jahr das Gleiche. Mit dem Untergang der Sonne begann die Nacht, diese eine ganz besondere Nacht. Halloween.
Ich konnte sie schon hören. Scharen von Kindern Machten sich bereit, die Straßen zu füllen, über die Gehwege zu schleichen, zu kriechen, zu humpeln. Laut würden sie stöhnen und in ihren Kostümen vor den Türen stehen.
Trick or treat. Süßes, sonst gibt‘s Saures.
Wie ich das hasste. Überall Mumien, die sich in Toilettenpapier gehüllt hatten, Vampire mit Kunstblut im Mundwinkel, Geister, die sich mit Bettlaken verhüllten, Monster, deren Fell aus alten Flokati Teppichen bestand und Zombies, deren Kleidung aus zerrissenen Shirts und Hosen angefertigt war. Jedes Jahr lauerten sie auf meiner Veranda, sie klingelten, sie bewarfen meine Fenster mit rohen Eiern. Und jedes Jahr lag ich zitternd in meinem Bett, unter meiner dicken Decke, immer wieder hoffend, dass sie mich endlich einmal auslassen und in Ruhe lassen würden.
Ich hasste die Kostüme, ich hasste es, erschreckt zu werden. Meinetwegen hätte dieses Halloween ruhig abgeschafft werden können. Leider liebten es anscheinend alle anderen Menschen auf dieser Welt.
Schon die letzten Tage, hatte ich mich unruhig gefühlt. In meinem Magen rumorte es, ich konnte kaum noch schlafen. So sehr hatte mich Halloween noch nie aufgewühlt. Es brachte mich zu einer Erkenntnis. Wenn ich nicht endlich etwas dagegen unternehmen würde, würde es jedes verdammte Jahr schlimmer werden. Es gab nur eines zu tun. Ich musste dort raus gehen und mich meiner Angst stellen.
Ich hatte mich gut vorbereitet. An den Füßen trug ich meine besten Laufschuhe, die mich notfalls aus einer Paniksituation heraus nach Hause tragen würden. In der einen Hand hielt ich einen großen Eimer mit Zuckerwerk, um es an Kinder zu verteilen, um meiner Angst direkt ins Auge blicken zu können. In der anderen hielt ich das Handy, immer bereit, auf den Notfallknopf drücken zu können. ich verließ das Haus.
Die Straßen waren wie leergefegt. Egal in welche Richtung ich an der Kreuzung auch blickte, es war keine Menschenseele in dieser Nacht unterwegs. Alles lag so still und friedlich, wie es sonst das ganze Jahr über nicht war. Ich musste grimmig lachen. Menschenseelen an Halloween.
Langsam ging ich los. Um nicht zufällig in eine größere Ansammlung zu geraten, entschied ich mich, das Stadtzentrum zu meiden. Im Sekundentakt sah ich mich um. Ich wollte mich von nichts und niemandem überraschen lassen.
Und plötzlich war es da. Wie aus dem Nichts, war das Gespenst aufgetaucht. Oder war ich einfach nur nicht aufmerksam genug gewesen? Es passierte meine Position. Obwohl ich vor Angst zitternd meinen Eimer hob Und mich um ein schiefes Lächeln bemühte, schenkte man mir keinerlei Beachtung. Na dann eben nicht. Ich werde die Schokolade auch allein verspeisen.
Noch während ich über diese Begegnung nachdachte, tauchte ein weiterer Geist auf, dann ein dritter, ein vierter. Plötzlich waren sie überall. Es war beinahe, als schössen sie wie Pilze nach einer regnerischen Herbstwoche aus dem Boden.
Süßes oder Saures. Ich rief es immer wieder. Ich begann sogar, einzelne Tütchen aus meinem Eimer zu werfen, nur um sie kurz darauf wieder einsammeln zu müssen. Ich war wie Luft für diese Menschen. Hatte ich etwa das Halloweenfest in meiner Zeit unter der Bettdecke immer falsch verstanden?
Und dann musste ich schwer schlucken. Mir wurde plötzlich etwas klar. Kein einziges Gespenst von den Vielen, die mich hier umgaben, wandelte auf Füßen. Ihnen fehlten schlicht die Beine. Ich konnte nicht nur unter ihren Kostümen hindurchschauen, es war mir auch möglich die Häuser der anderen Straßenseite durch sie hindurch erkennen zu können. Mit Schrecken wurde mir eines klar. Hier war kein einziges Kind unterwegs, nicht einmal ein Mensch. Das waren echte Geister, Tote, die sich aus ihren Gräbern erhoben hatten.
In mir schrie die Panik heraus. Nur mit Mühe und Not konnte ich sie daran hindern, sich einen Weg durch meine geschlossenen Lippen zu suchen.
Meine Beine drängten mich dazu, fortzulaufen, ein Versteck zu suchen, bewegen konnte ich mich aber nicht. Ich stand auf meinem Platz und musste zuschauen, was hier vor sich ging.
Mit der Zeit wurden es mehr und mehr Geister. Vielleicht ignorierten sie mich, vielleicht konnten sie mich nicht einmal wahrnehmen. Was auch immer, ich wusste es einfach nicht. Schließlich fasste ich mir ein Herz und sprach sie an.
Ich versuchte es mit einem vorsichtigen Hallo, wurde langsam lauter. Ich stellte mich ihnen sogar in den Weg. Sie drangen einfach durch mich hindurch, als wäre ich nichts anderes als Luft.
Langsam kroch eine neue Angst in mir hoch. Was wenn nicht sie die Toten waren, sondern ich? Konnten sie mich deswegen nicht sehen? Schnell kniff ich mir in die Wange, wie es meine Oma immer bei Besuchen gemacht hatte. Damals hatte ich diese Art der Begrüßung gehasst, heute ließ sie mich einen Schmerz spüren, der mir zeigte, immer noch den Lebenden anzugehören. Ich atmete erleichtert auf.
Ein ganz neues Gefühl machte sich in mir breit, dass ich noch nie mit Halloween in Verbindung gebracht hatte. Neugierde. Ich konnte nicht sagen warum, aber ich wollte wissen, was die Geister antrieb. Ich folgte ihnen, überholte sie sogar. Je näher ich dem Zentrum kam, desto bewusster wurde mir, dass sie aus allen Richtungen kamen und sich einem ganz bestimmten Punkt in der Stadt näherten. Sie schienen sich zu sammeln. War das etwa nur der Beginn von etwas Schrecklichem? Würden sie dann doch noch mit geballter Kraft und Macht über uns Menschen herfallen?
ich bog an einer Kreuzung ab. Mir stockte der Atem. Nur wenige hundert Meter von mir entfernt, standen sie. Es mussten hunderte, wenn nicht sogar tausende Geister sein. sie schwebten nicht mehr weiter, schienen auf etwas zu warten. Hier würde es also beginnen oder enden.
Ich ging weiter, mischte mich unter sie, bis ich langsam zu verstehen begann. Sie standen nicht in einer wild Gruppe durcheinander. Sie hatten Reihen gebildet, wie an der Kasse im Supermarkt. Sie standen an, nur wofür?
Ich drehte mich mehrmals im Kreis, sah auf. Mein Blick fiel sofort auf das große Schild, das über dem Eingang des Kinos leuchtete. Die Gruselkomödie „Ghostbusters“ sollte in wenigen Minuten in einer Halloween Sondervorführung gezeigt werden.
Nein. Das konnte nicht sein. Geister gingen doch nicht ins Kino. Das war etwas für Menschen.
Und auf einmal drang ein Wispern an mein Ohr. Da war ein leises, kaum wahrnehmbares Stimmengewirr, das anschwoll, lauter wurde. Ich … ich konnte hören, was die Geister um mich herum sagten, worüber sie redeten.
Sie freuten sich, gruselten sich. Manche von ihnen hatten Angst. Ein Film, in dem Geister von Menschen entdeckt und gefangen wurden, war für sie die schlimmste aller Vorstellungen. Für sie würde gleich einer der gruseligsten Horrorfilme aller Zeiten über die Leinwand flimmern. Sie kauften sich ihre Tickets, besorgten große Eimer voller Popcorn. Nach und nach wurde die Straße leer. Ich war wieder allein.
Langsam drehte ich mich wieder um, machte mich auf den Weg nach Hause. Viel Spaß mit Geisterjägern, dachte ich mir. Hoffentlich könnt ihr danach noch ruhig in euren Gräbern schlafen.
Als ich schließlich den Schlüssel in mein Türschloss steckte, atmete ich erleichtert auf. Was ich in dieser Nacht erlebt hatte, reichte für ein ganzes Leben voller Angst und Panik. Von nun an würden mich nie wieder Kinder in Kostümen gruseln. Das nächste Halloweenfest konnte kommen.

(c) 2024, Marco Wittler

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