1676. Die Nacht der Hirsche

Die Nacht der Hirsche

Die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden. Während sich gerade der Mond anschickte, ihren Platz am Firmament einzunehmen, versammelten sich am dunklen Himmel die Sterne.
»Die Nacht schaut so wunderschön aus.«, freute sich der kleine Marienkäfer. »Zu schade, dass es Zeit wird, ins Bett zu gehen. Ich werde bestimmt ganz viele Sternschnuppen verpassen.« Er zog sich seine Decke bis zur Nasenspitze hinauf, blickte ein letztes Mal nach draußen und schlief ganz schnell ein.
Irgendwann, es muss um Mitternacht zur Geisterstunde gewesen sein, riss es ihn wieder aus dem Schlaf. Müde rieb sich der Marienkäfer die Augen. Er gähnte laut und suchte vergeblich nach seinem Wecker. »Es kann doch noch gar nicht so spät sein, dass ich aufstehen muss. Es ist noch dunkel draußen.«
Doch was hatte ihn dann wach werden lassen?
Plötzlich war da ein Schatten, der kurz den Mond bedeckte und am Fenster vorbei schritt. Kurz darauf tauchten ein zweiter und ein dritter auf.
Zuerst machten sie dem Marienkäfer Angst. Er zog seine Decke über den Kopf und versteckte sich. Doch irgendwann siegte seine Neugier. Langsam kam er wieder zum Vorschein, stand aus dem Bett auf und trat ans Fenster. Der nächste Schatten kam und schritt an ihm vorbei.
»Das ist ein riesengroßer Hirsch. Und da sind noch mehr von ihnen. Das wird eine richtige Versammlung. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich wüsste zu gern, was hier vor sich geht und ob sie etwas planen.«
Der Marienkäfer fasste sich ein Herz und tat etwas, was er nie von sich erwartet hätte. Er verließ mitten in der Nacht sein sicheres Heim und flog in die Dunkelheit hinaus. Jetzt musste er die Herde nur noch finden.
Mal ging es links um einen Baum herum, mal rechts um einen Busch. Er flog über dicke Äste hinweg und unter kleinen Zweigen, bis er eine Lichtung erreichte. Dort standen sie im Halbkreis. Es waren beinahe zwei Dutzend Hirsche. Nur am Ende eines Weges hatten sie eine Öffnung frei gelassen.
»Ist das etwa ein Spiel oder befolgen sie einen geheimen Plan?« Der Marienkäfer suchte sich ein sicheres Plätzen, klappte seine Flügel ein und beobachtete.
Die großen Tiere verharrten in völliger Stille, schienen auf etwas oder jemanden zu warten.
Und dann geschah es. Aus der Dunkelheit schälte sich ein Schatten. Ein Mensch mit aschgrauer Haut, gekleidet in einen feinen Anzug und einem langen Mantel, trat auf die Lichtung. Völlig in seinen Gedanken, bemerkte er den Tierkreis nicht und wäre am anderen Ende der Lichtung beinahe gegen einen Hirsch gestoßen. Fast zeitgleich kamen zwei weitere Tiere aus der Dunkelheit. Sie schlossen den Kreis und machten die vierundzwanzig voll.
Der Mensch war stehengeblieben. Er drehte sich im Kreis. Bedroht fühlte er sich nicht, dennoch hielt er respektvollen Abstand. »Was ist das hier? Warum versperrt ihr mir den Weg?«
Hatte er eben noch die Augen zu schmalen Schlitzen gekniffen, riss er sie nun auf. »Hirsche! Ihr seid Hirsche. Ihr seid …« Er drehte sich ein weiteres Mal im Kreis und begann zu zählen. »Ihr seid vierundzwanzig, was für eine wundervolle Zahl. Das sind zwei Mal Zwölf, zwei volle Dutzend. Und dann erst diese prunkvollen Geweihe.«
Er trat auf den ersten Hirsch zu, begann die Enden des Geweihs zu zählen, kam dabei auf zwölf Spitzen und setzte beim nächsten fort, bis er den Kreis vollendet hatte. »Du meine Güte, es sind zwölf, immer wieder zwölf.«
Er stockte. Hatte er sich auch nicht verzählt? Hatte er tatsächlich den ganzen Kreis durchgerechnet? Er begann ein weiteres Mal zu zählen, ein drittes, ein viertes Mal. Bei jeder Runde fand er mehr Spaß daran. »Oh, welch unerwartete Wonne, welch Glücksgefühle meinen alten Körper durchfluten. Es sind immer wieder zwölf Geweihspitzen und es hört einfach nicht auf.«
Runde um Runde kam er immer wieder auf das selbe Ergebnis, konnte aber nicht mehr aufhören, bis die Sonne aufging.
Der erste Strahl erreichte die Lichtung und ließ den Menschen zu Asche werden.
Einer der Hirsche wandte sich an den Marienkäfer, den er schon vor Stunden entdeckt hatte. »Dieser Mensch war ein Vampir, wollte einen seiner Artgenossen beißen und sein Blut trinken. Doch Vampire haben eine Schwäche. Sie müssen alles zählen. So haben wir ihn ausgetrickst.«

(c) 2025, Marco Wittler

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