1681. Das kleine, traurige Filzmonster

Das kleine, traurige Filzmonster

In einem weit entfernten Land, das sich zufällig ganz in unserer Nähe befindet, liegt der geheimnisvolle Zauberwald. Wenn man mit geschlossenen Augen ganz genau hinschaut, kann man ihn unter einem kleinen Busch entdecken. Dort hält er sich vor uns allen versteckt. Wer einmal das Glück hat, zufällig in ihn hinein zu stolpern, wird auf kleine, puschelige Monster treffen, von denen keines gefährlich ist. Sie alle sind freundlich und können keiner Fliege etwas zu Leide tun. Außerdem erstrahlen ihre zotteligen Felle in allen Farben, die du dir nur vorstellen kannst, jedes in einer anderen. In eben diesem Zauberwald machte sich gerade ein kleines, blaues Monster auf den Weg zur Monsterkindergarten.
Der kleine Rucksack, den es auf dem Rücken trug, wippte bei jedem Schritt hin und her. Dazu pfiff das Monster ein kleines Liedchen, das es sich selbst ausgedacht hatte. Leider war es bis zu seinem Ziel nur ein paar Schritte. Deswegen endete die Melodie schon an der Eingangstür des Nachbarhauses.
»Hallo, meine lieben, bunten Freunde.« Es stürzte sich in die Arme von grünen, roten, schwarzen, orangen und regenbogenfarbenen Monstern. Gemeinsam lachten sie, sprachen darüber, was sie Gestern nach dem Kindergarten alles erlebt hatten und suchten sich ein Spiel, mit dem sie sich die nächsten Stunden vertreiben konnten. Alle hatten sie riesigen Spaß. Nur eines von ihnen saß etwas abseits am Fenster und blickte traurig nach draußen.
Das fiel dem blauen Monster irgendwann auf. Es unterbrach sein Spiel, schlenderte rüber und setzte sich auf die breite Fensterbank.
»Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Bist du krank oder hast du schlecht geschlafen? Ich würde dir gern helfen und die grauen Wolken, die um deinen Kopf kreisen, vertreiben.«
Natürlich kreisten dort keine echten Wolken um das traurige Monster. Aber der Vergleich passte gut, denn bei schlechten Wetter, hatte kein einziges Monster im Zauberwald gute Laune.
Das traurige Monster ließ den Kopf hängen und seufzte laut. »Ich habe das Gefühl, dass ich nirgendwo dazu gehöre. Ich bin anders als die anderen.«
Das blaue Monster lächelte. »Wir sind alle anders. Kein Monster gleicht dem anderen. Schau dich um. Wir haben alle eine andere Farbe.«
Wieder ein Seufzer. »Das ist es nicht. Ihr seid alle kugelrund und habt ein flauschiges Fell. Ich bin aber nur ein dünner Fetzen Filz. Ich fühle mich jeden Tag, als hätte mich jemand ausgeschnitten, abgelegt und dann vergessen. Jeder von euch hat eine tolle Eigenschaft, ein spannendes Hobby oder eine Fähigkeit, die euch einzigartig macht. Ich hingegen bin und bleibe einfach nur aus Filz.«
»Und gerade das macht dich doch einzigartig und besonders.« Das blaue Monster legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter.
»Ich fühle mich aber trotzdem so, als würde ich nicht dazu gehören. Ich kann einfach nichts dagegen machen.«
In diesem Moment betrat ein gelbes Monster den Raum, das die anderen um zwei Köpfe überragte. »
Packt eure Sachen. Wir machen heute einen Ausflug auf den Berg. Vergesst eure Malsachen nicht, denn wir wollen die schöne Aussicht, die man vom Gipfel hat, zu einem Bild machen.«
Die Traurigkeit war erst einmal vergessen. Die vielen bunten Kindergartenmonster wuselten durcheinander. Sie alle packten ihre Rucksäcke, versuchten mal mehr, mal weniger erfolgreich ihre Schuhe anzuziehen, bevor es dann auf den schmalen Pfad durch den Wald und auf den Berg hinauf ging.
Während des Aufstiegs seufzte das Filzmonster wieder. »Schau dich einmal um.« Es zeigte nach vorn, nach hinten und deutete auf die anderen. »Das rote Monster hat Hörner, die wie Schraubendreher aussehen und wird bestimmt gut heimwerken können. Das pinke Monster kann mit seinen Zuckerwatte herstellen. Und du …« Es sah mit traurigen Augen zum Kopf des blauen Monsters. »Deine Hörner sind knusprige Croissant, die jederzeit nachwachsen.«
»Oh!« Das blaue Monster grinste und nahm seine Hörner ab. »Ich hätte fast vergessen, dass ich Hunger habe. Magst du eins?« Genüsslich stopfen sie sich die leckeren Hörnchen, die bei jedem Bissen auseinander krümelten.
Nach dem kleinen Frühstück sprachen sie weiter. »Ihr alle seid besonders. Aber was macht mich denn aus? Ich möchte nicht, dass ich eines Tages als Putzlappen in einem Eimer ende.« So schlimm das auch klang, sie mussten beide bei diesem Gedanken grinsen.
Nach einer Weile kam der Gipfel in Sicht. Der schmale Trampelpfad war noch schmaler geworden und befand sich nun in der Nähe eines Abgrunds, der aber durch einen stabilen Zaun gesichert war. Die Kindergartenmonster mussten nur noch eine schmale Brücke überqueren.
Das große, gelbe Monster trat darüber, ihm folgten das blaue und das Filzmonster. Gerade wollte ihnen das Regenbogenmonster folgten, da knackte es im Holz und mehrere Bretter brachen. Sie stürzten in die Tiefe. Nun war für die ersten Überquerer unmöglich, wieder zurückzukehren.
Das große, gelbe Monster riss entsetzt die Augen auf. »Was machen wir denn jetzt? Wir sitzen fest. Was passiert, wenn plötzlich Regen aufzieht, ein Sturm oder vielleicht sogar ein Gewitter?« Es begann zu zittern.
»Das kriegen wir hin.« Das kleine Filzmonster nahm eine gelbe Hand in seine und hielt sie tröstend fest. »Uns wird schon etwas einfallen. Uns wird nichts passieren.«
Es drehte sich um, zeigte auf das Regenbogenmonster. »Du übernimmst die Führung. Bring die anderen zurück, damit sie im Kindergarten in Sicherheit sind. Danach holst du für uns Hilfe. Jemand muss die Brücke reparieren. Um alles andere werde ich mich kümmern.«
Die große Trauer war verschwunden. Das Filzmonster wuchs in diesem Moment über sich hinaus.
Es schien genau zu spüren und zu wissen, was man in dieser Notsituation machen musste.
Die Kindergartenmonster machten kehrt. Langsam stiegen sie vom Berg herunter.
»Und nun?« Das gelbe Monster zitterte am ganzen Körper. »Wenn uns nicht bald jemand hilft, drehe ich durch. Ich halte das hier oben nicht lange aus. Ich bekomme …«
»Nein, du bekommst jetzt keine Panik.« Das Filzmonster hielt noch immer die Hand. »Wenn du nicht mehr kannst, bringe ich dich eben wieder ins Tal. Schließ die Augen und halt dich an mir fest. Du musst mir einfach nur vertrauen.«
Das gelbe Monster war sich unsicher, nickte dann aber und befolgte die Anweisungen. »Du weißt auch genau, was du machst?«
Das Filzmonster bejahte. Oft genug hatte es verzweifelt im Wind gestanden, hatte sich bei Sturm kaum festhalten können oder war sogar hinfort geweht worden. Jetzt endlich konnte es seinen dünnen, leichten Körper zu seinem Vorteil nutzen. Es breitete Arme und Beine aus, ließ sich vom gelben und blauen Monster umklammern und sprang in die Tiefe.
»Hui!« Das war ein unglaubliches Gefühl. Zu dritt segelten sie langsam, wie ein Flugdrachen, sicher vom Berg herab. Ein anderes Monster hätte das wegen des runden Körpers niemals wagen dürfen. Das Filzmonster hingegen war dafür wie geschaffen. Es jubelte laut und lauter, freute sich und lachte. »Ich bin einzigartig. Ich bin besonders. Und ich habe endlich meinen Platz im Zauberwald gefunden. Ich bin ein Flugmonster.«
Zurück im Monsterkindergarten waren alle froh, dass dieses Abenteuer glücklich ausgegangen war und niemand auch nur einen einzigen Kratzer abbekommen hatte.
»Wie fühlst du dich jetzt?«, fragte das blaue Monster seinen Freund, während sie gemeinsam leckere Croissant aßen.
»Ich fühle mich frei wie ein Vogel.«, antwortete das Filzmonster. »Ich möchte, wenn ich groß bin, Rettungsmonster werden und verirrte und verunglückte Monster suchen, finden und sicher vom Berg ins Tal fliegen.«

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