Flaschenpostbote Knut schwingt die Hufe
Flaschenpostbote Knut schwamm vor dem großen Spiegel im Büro seines Postamts auf und ab. Wie immer betrachtete er sein Gegenüber äußerst kritisch. Mit einer Bewegung, die er lange Jahre geübt hatte, strich er sich über den buschigen Schnurrbart. Doch statt sich nun Uniformjacke und Mütze aufzusetzen, zog er sich ein gemütliches Jäckchen an, das aus frischen Seegräsern gestrickt worden war.
»Bestens! Jetzt kann ich meinen freien Sonntag so richtig genießen.«
Knut verließ das Haus und schwamm ganz gemütlich ins Zentrum der Stadt unter dem Meer, in dem nicht wenige Meermenschen, Fische und andere Wasserwesen lebten. Die einen saßen in Cafés und tranken wohlduftenden Seetangsud, während andere über die Gehwege flanierten und spazierten. Knut war weder nach dem einen, noch nach dem anderen. Womit er sich die Zeit vertreiben wollte, wusste er allerdings auch nicht. Er war es gewohnt, rund um die Uhr Flaschenpost auszutragen. Vor einem Plakat blieb er stehen. »Seepferdchenrennen. Hm. Das ist etwas Neues. Vielleicht sollte ich mir das mal aus der Nähe anschauen.« Knut machte kehrt und sich auf den Weg zum großen Wasserballstadion, dass nur ein paar Fischschwanzschläge entfernt lag.
Der Flaschenpostbote schwamm durch das große Eingangsportal und fand sich alsbald von anderen Zuschauern umringt. Diese interessierten ihn weniger. Stattdessen wollte er einen Blick auf die Seepferdchen werfen, inwiefern sie sich von den Wildtieren unterschieden, die er von Seegraswiesen kannte. In einem unbeobachteten Moment warf er einen verstohlenen Blick durch einen schmalen Schlitz ein Sichtschutzwand. Erschrocken riss er die Augen auf.
»Beim Klabautermann und allen Meeresgöttern, die mir heilig sind, was passiert dort?«
Knut wollte nicht glauben, was sich dort vor seinen Augen abspielte. Mindestens zwanzig Seepferdchen waren auf engstem Raum eingesperrt, angebunden und wurden von ihren Reitern, allesamt Meermenschen, mit Gerten und Ruten geschlagen, damit sie aufs Wort gehorchten. »Hört auf, die armen Tiere zu quälen. Das dürft ihr nicht.«
In diesem Moment wurde Knut von vier starken Händen ergriffen. Zwei Meermänner mit grimmigen Gesichtern in dunkeln Sicherheitsuniformen führten ihn von den Stallungen fort. »Du hast hier nichts gesehen, haben wir uns verstanden, Alterchen? Wenn du irgendwem etwas davon erzählst, bekommst du riesigen Ärger.«
Knut schluckte schwer, nickte und verhielt sich still.
»Dann ist ja alles in bester Ordnung.« Die Männer ließen Knut ein paar Meter weiter los. »Dann schwimm rauf auf die Tribüne und genieß das Rennen.« Um ihrer Forderung noch einmal Nachdruck zu verleihen, legten die Sicherheitsmänner ihre Zeigefinger auf ihre Lippen und verschwanden.
Der Flaschenpostbote seufzte. Auf das Rennen hatte er nun keine Lust mehr. Tierquälerei sollte nicht zur Unterhaltung dienen. Er entschloss sich, das Stadion zu verlassen. Noch bevor er den Ausgang erreicht hatte, begann er zu grinsen.
Fünf Minuten später schwamm der Stadionsprecher in seine Kabine und schaltete sein Mikrofon ein. Er begrüßte die Zuschauer, erklärte die Wettkampfregeln und forderte die Teilnehmer auf, die Startpositionen einzunehmen. Lautes Wiehern war zu hören. Die Reiter gaben ihren Seepferdchen offenbar jetzt schon die Sporen zu spüren. Mit einem lauten Knall öffneten sich mehrere Türen und gaben den Weg auf die Rennbahn frei.
Mit hoher Geschwindigkeit schwammen die Seepferdchen los und gingen in die erste Kurve. Von mehreren tausend Stimmen wurden sie begeistert angefeuert, bis es im Stadion plötzlich mucksfischchenstill wurde.
»Wartet auf mich! Ich komme!«
Aus einer der Startkabinen kam ein alter Meermann hervor. Flaschenpostbote Knut hatte sich ein Steckenseepferdchen besorgt, das aus einem Stoffkopf und einem langen Holzstab bestand. Mit der Kraft seiner eigenen Schwanzflosse nahm er die Verfolgung auf und jagte hinter den echten Seepferdechen her.
Schnell hatte das Publikum begriffen, was hier geschah. Zuerst lachten sie laut, doch dann begannen sie, Knut zu unterstützen, so laut sie nur konnten. Es donnerten Anfeuerungen und kräftiger Applaus über die Rennbahn.
Knut fühlte sich beflügelt und gab sein Bestes. Mit jedem Flossenschlag kam er den anderen näher. In der letzten Kurve hatte er die meisten Seepferdchen überholt und war dem Führenden dicht auf den Fersen. Sie bogen in die Zielgerade ein. Eine weiße Linie markierte das Ziel. Als Knut sie überquerte, wedelte der Schiedsrichter mit einer schwarzweißen Fahne.
»Wie? Was? Hab ich wirklich gewonnen?«
Knut konnte es kaum fassen, als ihm die Siegermedaille um dem Hals gehängt wurde und er von allen anderen Teilnehmern grimmig angeblickt wurde.
»Da könnt ihr mal sehen, wie gut eine Meermenschenschwanzflosse trainiert sein kann, wenn man täglich die Flaschenpost mit eigener Körperkraft austrägt. Da braucht es keine gequälten Reittiere.« Mit einem breiten Grinsen reckte er sein Steckenseepferdchen in die Luft und ließ sich vom Publikum bejubeln.
Eine Woche später schwamm Knut grinsend vor dem Eingang des großen Wasserballstadions. Die Plakate der Seepferdchenrennen waren verschwunden. Stattdessen hingen nun ganz Neue vor den Toren. »1. großes Steckenseepferdrennen« stand in großen Buchstaben darauf.
Der Flaschenpostbote nickte zufrieden. Die Zeit der Seepferdchenrennen war endgültig vorbei.
(c) 2025, Marco Wittler
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