Hella Hummel ist eine echte Summsebrummse
»Seit ihr bereit?« Hilda stand ungeduldig am Ausgang des Hummelnestes. »Die Sonne ist schon vor fünf Minuten aufgegangen. Wenn wir nicht bald aufbrechen, finden wir keinen guten Platz auf der Liegewiese. Ich will nicht wieder den ganzen Tag damit verbringen, immer wieder im Kreis um das Freibad zu fliegen. Ich will auch mal ins Wasser hüpfen. Mit meinem dicken Po kann ich bestimmt eine legendäre Arschbombe machen, von der man sich noch in vielen Generationen ehrfürchtig erzählen wird.«
Die anderen Hummeln nickten eifrig, setzten ihre Rucksäcke auf und bereiteten sich darauf vor, in die frische Morgenluft zu starten. Nur eine von ihnen saß noch ganz untätig im Hintergrund. Hella Hummel blickte unsicher von einer ihrer Freundinnen zur nächsten und hoffte, dass man sie hier im Schatten nicht bemerken würde. Nervös hielt sie die Kordeln ihres Hoodies in Händen und drückte mit den Fingern fortwährend auf die Knoten.
»Hella, kommst du?« Hilda hatte sie entdeckt und winkte.
»Och, ich weiß nicht.« Hella winkte ab. »Fliegt ihr ruhig allein zum Freibad. Ich bleibe heute hier.« Sie nestelte an ihrem Rucksack herum, der auffällig leer aussah. »Bei meinem Badeanzug ist während der letzten Wäsche eine Naht aufgegangen, deswegen habe ich nun nichts Passendes zum anziehen. Außerdem habe ich heute Nacht ganz schlecht geschlafen. In meinen Träumen wurde ich stundenlang von einem gefräßigen Vogel über die Blumenwiese gejagt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie müde ich bin. Aber ich wünsche euch ganz viel Spaß.«
Hilda nickte und warf ihrer Freundin einen mitleidigen Blick zu. »Aber es geht dir wieder besser?«
»Ja.«
»In Ordnung. Dann mach dir einen schönen, ruhigen Tag im Nest. Ich schaue nach dir, wenn wir wieder zurück sind. Ich hoffe, du wirst uns nicht zu sehr vermissen.«
Puh! Das war geschafft. Wieder einmal war Hella erfolgreich im Nest verblieben, während die anderen Hummeln unterwegs waren.
Langsam trottete sie in ihre Wabe zurück, zog den weiten Hoodie aus und strich sich traurig seufzend über die zwei Flügel auf der linken Seite, die seit ihrer Geburt einen Knick hatte und sie am Fliegen hinderten. »Ich würde so gern einmal mit den anderen zum Freibad oder einfach mal nur eine Runde über die Blumenwiese drehen. Das wäre das Schönste, was ich mir in meinem Leben vorstellen kann. Aber ich bin und bleibe nur eine kleine, unnütze Hummel, die mit den anderen nicht mithalten kann.«
Hella ließ sich auf ihr Bett plumpsen. Schon wollte sie ein paar Tränen vergießen, als jemand ihre Wabe betrat.
»Oh Hella, meine liebe Freundin Hella.« Es war Hilda, die nun auf das Bett zulief, Hella in ihre Arme nahm und fest an sich drückte. »Niemand von uns denkt, dass du unnütz bist. So wie du bist, bist du genau richtig. Wir mögen und lieben dich, wie du bist.«
Hella begann zu schluchzen. Natürlich war sie erschrocken, dass ihr langer Schwindel aufgeflogen war. Sie war allerdings auch glücklich, dass sie sich nun nicht mehr verstecken und die anderen anlügen musste. »Es tut mir so leid. Ich wollte dieses Versteckspiel nicht mit euch spielen. Ich habe mich aber so sehr für meine kaputten Flügel geschämt. Das werde ich nie wieder gut machen können.«
Hilda schob Hella von sich weg, nur ein ganz kleines Stück, und blickte ihr tief in die Augen. »Es gibt nichts zu entschuldigen. Für deine Flügel kannst du nichts.«
Trotzdem hatte Hella ein unheimlich schlechtes Gewissen.
»Ich hatte irgendwie schon etwas geahnt, weil du uns noch nie nach draußen begleitet hast. Dass du im Nest Wache schiebst, hat uns lange abgelenkt, seltsam war es trotzdem.« Hilda nahm Hella an die Hand und zog sie hinter sich her. »Wir haben uns etwas überlegt, dass dir vielleicht helfen wird, uns in Zukunft zu begleiten. Komm ich, dann werde ich es dir zeigen.«
Gemeinsam gingen sie zum Ausgang und traten in den hellen Sonnenschein hinaus, den Hella bisher noch nie im Freien hatte bestaunen können.
Und da standen sie. Links und rechts hatten die anderen Hummel je eine Reihe gebildet und hielten seltsame Dinger in ihren Händen, mit denen Hella nichts anzufangen wusste.
»Das sind die Samen des Löwenzahns. Den Nektar und die leckeren Pollen kennst du bestimmt gut genug. Was du aber nicht weißt, ist die Veränderung, die der Löwenzahn durchmacht. Wenn er verblüht ist, verwandelt er sich in die Pusteblume. Jedes Samenkorn bekommt einen kleinen Fallschirm auf den Kopf, damit der Wind ihn durch die Lüfte tragen kann. Das funktioniert ganz ohne Flügel.«
Hellas Augen weiteten sich und begannen zu leuchten. »Du meinst, ich könnte damit wirklich …« Sie traute sich nicht, ihren Gedanken laut auszusprechen.
»Ja.« Hilde nickte aufmunternd. »Wir glauben ganz fest daran, dass du mit den Samen der Pusteblume mit uns über die Wiese fliegen kannst.«
Hella nahm ein paar der kleinen Schirmchen, hielt sie hoffnungsvoll in die Höhe und spürte sofort, wie der Wind nach ihnen griff. Nur einen Wimpernschlag später, verlor die kleine Hummel den Boden unter den Füßen. »Ich kann fliegen.« Sie winkte ihren Freundinnen zu. »Schaut alle her, ich kann wirklich fliegen. Zum allerersten Mal in meinem Leben, bin ich dem Himmel näher als der Erde.« Sie jubelte laut auf und konnte ihr großes Glück gar nicht fassen.
Nun folgten ihr auch die anderen Hummeln. Gemeinsam überquerten sie immer laut lachend und jubelnd die Blumenwiese. In den kurzen Momenten, in denen mal der Wind nachließ und Hella Gefahr lief, auf den Boden zu fallen, halfen die anderen Hummeln mit ihren eigenen Flügeln nach und sorgten für genügend Auftritt und künstlichen Wind. Erst am Abend kehrte der kleine Schwarm in das Nest zurück.
Überglücklich ließ sich Hella Hummel auf ihr Bettchen fallen. Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Das war der schönste Tag in meinem Leben.«
Es klopfte an der Wabe und Hilda trat ein. »Ich habe das noch ein kleines Geschenk für dich.« Sie holte einen neuen Hoodie hinter ihrem Rücken hervor. Darauf war ein Bild einer fliegenden Hummel abgebildet, unter dem etwas geschrieben stand, das Hella noch sehr viel glücklicher machte: Hella Hummel ist eine echte Summsebrummse.
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