Charlies Ritt auf dem Regenbogen
»Papa, komm schon!« Charlotte zog an Papas Hand, um nicht zu spät zu kommen. »Wir verpassen noch den ganzen Spaß. Wenn du dich nicht beeilst, ist die Kirmes wieder weg, bevor wir auch nur mit einem einzigen Karussell gefahren sind.«
Sie verließen den Parkplatz, überquerten die Straße und fanden sich in einer bunten Welt aus Zuckerwerk, lauter Musik und jeder Menge Nervenkitzel wieder.
An diesem wunderschönen Sonnentag war der sonst so leere Schotterplatz gut besucht und jede Menge Menschen drängelten sich durch die Gänge.
»Papa, schau!« Sie kamen gerade an der Geisterbahn vorbei und steuerten auf ein gläsernes Labyrinth zu, bis Charlotte plötzlich stehen blieb. Vor Staunen stand ihr der Mund auf. »Das ist ja ein echtes Riesenrad. Fahren wir bitte damit? Ich wette, von oben kann man bis zum Ende der Welt schauen.«
Papa sah nur ganz kurz auf und schluckte schwer. »Ähm, naja, weißt du …« Er suchte schnell nach einer Ablenkung, um nicht an seine Höhenangst denken zu müssen. Er wollte auf gar keinen Fall in einer dieser engen Kabinen sitzen und zur Erde herab blicken müssen.
Er entdeckte eine Bude mit allerlei Naschwerk und atmete erleichtert auf. »Charlie, schau mal. Dort drüben gibt es Zuckerwatte. Du liebst doch Zuckerwatte.«
Charlie wiegte den Kopf hin und her, dachte nach, blickte vom Riesenrad zur Bude und zurück. »Au ja. Zuckerwatte ist eine super Idee. Die können wir dann mit ins Riesenrad nehmen. Dort kann ich sie dann ganz gemütlich naschen und die Aussicht genießen.«
Papa schloss kurz die Augen, holte tief Luft und überlegte fieberhaft, wie er sich aus dieser aussichtslosen Situation retten konnte.
»Einmal Zuckerwatte bitte.«, gab er die Bestellung an die nette Dame ab, die sich mit einem breiten Lächeln zu Charlie herabbeugte.
»Was magst du denn für eine Farbe haben? Ich kann dir Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo oder Violett anbieten. Aber solltest du zu den ganz mutigen Mädchen gehören, nimmst du einfach alle Farben des Regenbogens und begibst dich damit auch ein unglaubliches Abenteuer.«
Charlie musste nicht lange überlegen. »Regenbogen!«, sagte sie überzeugt und hielt nur wenige Minuten später eine bunte Zuckerwatte in der Hand.
»Ich bin mir felsenfest sicher, dass die Zuckerwatte viel zu groß ist und wir sie nicht mit in das Riesenrad nehmen dürfen. Was hältst du davon, wenn du sie hier auf dem Boden ganz gemütlich naschst und wir danach eine Runde im Kettenkarussell drehen?«
Auch das Kettenkarussell war nicht nach Papas Geschmack, aber immer noch besser, als im Riesenrad Panik zu bekommen.
Charlie nickte und zupfte sich den ersten Bissen von ihrer bunten Zuckerwolke ab.
In diesem Moment schien sich die ganze Welt um die beiden herum zu verändern. Die Menschen hielten inne, die Karussells blieben stehen, die Musik verstummte. Es war, als hätte jemand die Pausentaste gedrückt.
Von der Zuckerwatte löste sich ein bunter Streifen, stieg zum Himmel hinauf, wurde immer breiter und entwickelte sich schließlich zu einem riesigen Regenbogen.
»Papa, wie krass ist das denn? Ich wusste gar nicht, dass Zuckerwatte so etwas kann.«
Plötzlich bewegte sich etwas ganz oben auf dem Bogen. Ein Tier kam in gemächlichen Schritten auf sie zu, bis es den Boden erreicht hatte. Es war ein weißes Einhorn mit einem Schweif in Regenbogenfarben.
»Hallo Charlie. Ich grüße dich und deinen Papa. Seid ihr bereit für ein wildes Abenteuer?« Es zwinkerte und grinste. »Natürlich seid ihr das. Ihr hättet sonst niemals eine Regenbogenzuckerwatte an der Bude gekauft. Na los, steigt auf. Auf euch wartet der Ritt eures Lebens.«
Oh, oh. Papa schluckte schwer. Wollte er das wirklich? Nein, eigentlich nicht. Aber Charlies Augen glühten schon vor Begeisterung. Wie hätte er ihr jetzt noch die Vorfreude nehmen können? Also setzten sie sich auf den Rücken des Einhorns. Was sollte auch schon passieren können? Ein paar Runden um den Kirmesplatz. Nichts Schlimmes also.
»Es geht los!« Das Einhorn scharrte mit einen Huf und galoppierte davon. Es steuerte auf den Regenbogen zu, sprang auf ihn und schwang sich in die Höhe. Mit jedem Schritt ging es weiter zum Himmel hinauf. Die Menschen am Boden wurden immer kleiner, bis sie von Ameisen nicht mehr zu unterscheiden waren.
Charlotte jubelte laut, war regelrecht begeistert, während Papa hinter ihr die Augen fest geschlossen hatte.
»Du darfst die Augen ruhig öffnen. Es kann dir nichts passieren.«, versicherte das Einhorn.
Papa schluckte und öffnete seine Lider einen Spalt breit. Genau in diesem Moment rutschten sie in wilder Fahrt auf der anderen Seite des Regenbogens herab, bis sie wieder die Erde erreicht hatten.
»Das war so krass. Können wir das noch einmal machen?«
Doch das Einhorn verneinte. »Ich würde gern, doch da vorn kauft sich bereits das nächste Kind eine Zuckerwatte in Regenbogenfarben. Ich muss weiter.«
Papa nahm Charlie an die Hand und zeigte auf das Riesenrad. »Weißt du was? Wir fahren jetzt noch eine Runde in einer der Gondeln. Nachdem ich über den Regenbogen geritten bin, wird mir so ein kleines Riesenrad bestimmt keine Angst mehr machen.«
(c) 2025, Marco Wittler
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