1696. Das gelbe Schwein

Das gelbe Schwein

Die Nacht neigte sich ihrem Ende entgegen. Während auf der einen Seiten der Himmel noch in absoluter Finsternis lag, färbte er sich auf der anderen am Horizont in ein angenehmes Orange. Der Morgen verkündete den neuen Tag. Schon bald würden die ersten Sonnenstrahlen die Küste erreichen und die Bewohner eines kleinen Hafenstädtchens aus ihren Träumen wecken.
»Das ist er, meine lieben Freunde, das ist der perfekte Augenblick für einen
gelungenen Raubzug.« Kapitän Augenklappe, ein Bengalischer Kater von stattlichem Aussehen, legte seine Pfoten auf den riesigen Schreibtisch und stand auf. Er überkreuzte seine Arme hinter dem Rücken und blickte zufrieden auf die Karte nieder, die er vor ein paar Minuten ausgebreitet hatte.
»Ich habe seit dem letzten Vollmond immer wieder an meinem Plan überlegt, gefeilt und gearbeitet. Er ist absolut narrensicher. Wir landen an der Küste an, schleichen uns zur Stadtmauer und überwältigen den Wachposten. Das klingt kompliziert, ist aber einfacher, als ihr alle denkt.« Er blickte mit seinem letzten vorhandenen Auge durch die Runde. »Dort steht seit Jahren ein alter Soldat, der keine Lust auf Ärger hat. Umso mehr Lust hat er allerdings auf süße Schaummäuse. Die isst er für sein Leben gern. Wir drücken ihm einfach eine Packung davon in die Pfoten, damit er beschäftigt ist. Schon ist der Weg durch das Stadttor frei.
Im Laufschritt geht es dann weiter. Wir suchen allerdings nicht das Rathaus auf, wie ich es ursprünglich geplant hatte. Der Schatz befindet sich nämlich in einem Geheimversteck. Durch einen glücklichen Umstand habe ich den genauen Standort erfahren. Es hat mich nur ein paar Katzengrasbiere, einen langen Abend in der Hafenspelunke und ein Morgen mit schrecklichsten Kopfschmerzen gekostet, um einen Assistenten des Bürgermeisters zum Reden zu bringen. Unser Ziel nennt sich ZUM WILDEN EBER und ist ein unscheinbare
s Gasthaus am Rande des Marktplatzes.
Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. In ein paar Stunden sind wir gemachte Katzen und Kater.«
Die Mannschaft knurrte anerkennend, bevor sie sich auf den Weg zum Deck machte. Jede Katze und jeder Kater wusste genau, was jetzt zu tun war. Sie nahmen ihre Positionen ein. Kapitän Augenklappe stieg zur Brücke empor, übernahm höchstpersönlich das Steuerrad und hielt genau auf das Licht des kleinen Leuchtturms zu, das gerade sichtbar geworden war.
Der starke Wind trieb das Piratenschiff mit Höchstgeschwindigkeit auf die Küste zu. Noch vor Sonnenaufgang konnten sie den Anker zu Wasser lassen und mit einem kleinen Ruderboot das Ufer erreichen.
Kapitän Augenklappe führte seine Leute an. Am Stadttor stand, wie erwartet, der alte Soldat, der nicht lange überzeugt werden musste und sich gierig auf die süßen Schaummäuse stürzte. Die Straßen der Stadt lagen alle noch im Tiefschlaf. Es war kein Mucks zu hören, kein einziger Bewohner zu sehen. Es lief so einfach. Schon bald würden sie den Schatz in ihren Pfoten halten. Ohne größere Mühen und Zwischenfälle erreichten sie den WILDEN EBER, der an seinen großen, mit roter Farbe gemalten Buchstaben leicht zu erkennen war.
Sie umrundeten den Brunnen vor dem Haus und machten sich bereit.
»Meine Freunde, tretet ein. Hinter dieser Tür erwarten uns Gold, Edelsteine und Geschmeide. Ab sofort sind wir gemachte Leute.«
Schon wollten die Piraten das Gasthaus stürmen, als einer von ihnen einen Arm ausstreckte und sie aufhielt. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.« Ein grau getigerter Kater, den die anderen nach seiner Leibspeise benannt hatten, zeigte auf ein Schild, dass das Blut in den Adern gefrieren ließ.
WARNUNG VOR DEM GELBEN SCHWEIN
Kapitän Augenklappe trat näher, las den Text ein, zwei, sogar ein drittes Mal, bis er leise zu lachen begann. »Fritte, du glaubst doch wohl nicht an Märchen? Das ist doch offensichtlich, dass man damit Diebe
und Unholde abschrecken will. Wer hat schon Angst vor einem Schwein?«
Nun lachten auch die anderen Piraten. Lediglich Fritte hielt sich unsicher zurück. »Was ist, wenn es kein normales Schwein ist? Es könnte ein Vampir- oder Werschwein sein, vielleicht sogar ein Superheldenschwein sein. Es wird uns bestimmt einen drüber geben. Sollten wir den Raubzug nicht lieber abbrechen?«
Kapitän Augenklappe schüttelte energisch den Kopf. »Keinesfalls. Wir sind so weit gekommen, dass es kein Zurück mehr gibt. Wir holen uns den Schatz.«
Als hätte jemand auf dieses Stichwort gewartet, öffnete sich ein Stockwerk höher ein Fenster. Ein Schwein in einem gelben Anzug trat vor, blickte auf den Marktplatz und ließ seine scharfen Eckzähne aufblitzen. »Attacke!«, rief es laut, trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang hinaus.
Die Piraten begriffen, dass das Warnschild kein Scherz und keine Abschreckung war. Das leibhaftige gelbe Schwein sprang auf sie herab. Sie wussten in diesem Augenblick, dass es um sie geschehen war.
»Rückzug!«, brüllte Kapitän Augenklappe. Was auch immer dieses Schwein war, er wollte damit keine Bekanntschaft machen. »Rückzug!«
Die Piraten nahmen ihre Beine in die Pfoten und rannten los. Sie mussten schnellstens zurück aufs Schiff.
Das gelbe Schwein lachte laut auf, während es dem Boden entgegen fiel. Doch statt unsanft auf diesem aufzuschlagen, landete es mit einem spritzigen Platscher im Brunnen vor dem Haus. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis es wieder auftauchte und Wasser aus seiner Schnauze prustete. »Ist das herrlich.«, freute es sich. »Es gibt nichts Schöneres, als den neuen Morgen mit einem Bad zu beginnen. Jetzt fühle ich mich frisch und wach.« Das Schwein stieg aus dem Brunnen, schüttelte sich das Wasser vom Leib und seufzte. »Wenn ich doch bloß nicht jedes Mal vergessen würde, meinen Schlafanzug auszuziehen. Hoffentlich trocknet der bis heute Abend.

(c) 2025, Marco Wittler

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