722. Die lahme Ente

Die lahme Ente

Emil Ente saß auf der Wasseroberfläche eines Teichs und genoss die warmen Strahlen der Sonne, die hoch am Himmel stand. Nach dem langen und kalten Winter war das genau das Richtige, um sich endlich wieder wohl zu fühlen.
»Na.«, sprach ihn plötzlich jemand von hinten an.
»Lässt du dich auch mal wieder blicken?«
Es war Karl der große Karpfen, der hier das Sagen hatte und mit dem sich niemand freiwillig anlegen wollte.
»War dir wohl zu kalt im Winter. Die feine Ente hat sich wohl wegen Eis und Schnee in ihrem warmen Stall verkrochen, während andere Leute frierend im Wasser zurück bleiben mussten.«
Emil begann zu schwitzen. Was hatte dieser Karpfen nur vor?
»Was soll man auch von so einer lahmen Ente verlangen? Ihr seit plump, dick und braucht eine Ewigkeit, bis ihr euch richtig in die Luft erhoben habt. Ihr könnt ja nicht mal richtig schwimmen. Selbst der kleinste Fisch würde euch in einem Rennen locker abhängen.«
Karl begann zu grinsen. »Na, wie sieht‘s aus, Ente? Traust du dich? Nimmst du es mit Karl auf, oder bist du nur ein jämmerlicher Feigling? Los, schwimm mit mir um die Wette und zeig den anderen, dass du nicht lahm und langsam bist.«
Jetzt war es raus. Karl wollte ein Wettschwimmen. Das konnte der Karpfen nur gewinnen. Als großer, kräftiger Fisch hatte er im Wasser alle Vorteile auf seiner Seite.
Emil dachte ängstlich nach. Er würde in jedem Fall verlieren. Entweder unterlag er dem Karpfen im Rennen oder der Fisch würde allen seinen Freunden erzählen, dass Emil ein Feigling sei.
Emil seufzte. »Also gut. Wir schwimmen um die Wette. Dann kann ich wenigstens sagen, dass ich es versucht habe.«
Karls Grinsen wurde noch breiter.
»Ich zähle bis drei. Dann geht‘s los.«
Die beiden holten noch einmal tief Luft.
»Eins! Zwei! Los!«
Karl war nicht nur schneller als jeder andere Schwimmer. Er war auch ein schamloser Betrüger. Sofort gab er Gas und ließ die verwirrte Ente hinter sich zurück.
In diesem Moment stürzte ein Adler vom Himmel herab, griff mit seinen mächtigen Krallen nach Emil und zog ihn mit Atem beraubender Geschwindigkeit durch den Teich. Das Wasser spritzte wie wild in alle Richtungen.
Nach ein paar Sekunden holte Emil den Karpfen ein und ließ nun ihn alt aussehen.
Am Ziel ließ der Adler von der Ente ab und flog wieder zu den Wolken hinauf.
»Wurde endlich mal Zeit, dass es jemand diesem Angeber zeigt.«, war das Letzte, was von ihm zu hören war.
»Verdammt!«, brüllte Karl verärgert. »Wie kann das sein? Niemand ist schneller als ich. Das ist unmöglich.«
Emil lachte.
»Jetzt bist du es nicht mehr. Dass du gegen mich verloren hast, werde ich für mich behalten. Ich bin nicht so gemein. Aber ich rate dir, nie wieder jemanden hier am Teich zu ärgern oder herauszufordern. Sonst werde ich überall erzählen, dass du gegen eine lahme Ente ein Wettschwimmen verloren hast.«
Das ließ sich Karl natürlich nicht zweimal sagen. Beleidigt schwamm er davon und hielt sich nun deutlich zurück.

(c) 2019, Marco Wittler

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