744. Die kleine Frau im Wald

Die kleine Frau im Wald

In einem kleinen Haus mitten im Wald, lebte seit einer gefühlten Ewigkeit eine kleine Frau, die von früh bis spät ihrem Tagwerk nachging.
Am Morgen saß sie im Freien an einem kleinen Tisch, trank ihren Kaffee aus einer riesig großen Tasse und genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages.
Zur Mittagsstunde bereitete sie an gleicher Stelle ein gar köstliches Mahl zu, dass sie mit jedem teilte, der gerade des Weges kam und ihr eine spannende Geschichte erzählen konnte.
Am Abend stellte sie einen alten Schaukelstuhl vor die Tür, machte es sich mit einer dampfenden Tasse Tee darin gemütlich und las aus einem dicken Buch Geschichten vor. Wenn zufällig jemand an ihrem Haus vorbei kam, durfte er gern verweilen und ihr dabei zuhören.
Solang die kleine Frau denken konnte, hatte sie in ihrem Leben nie etwas anderes getan.
Eines Tages war sie während des Vormittags auf den nahen Waldwegen unterwegs, um Kräuter für das Essen zu sammeln. Mit jedem Schritt füllte sich ihr Korb mehr. Man konnte den frischen Duft schon von Weitem riechen.
Doch plötzlich veränderte sich etwas. Der Wind hielt den Atem an. Die Vögel hörten auf zu zwitschern und die Grillen stellten das Zirpen ein. Im Wald wurde es so still, dass man eine Stecknadel auf ein Moosbett hätte fallen hören können.
Die kleine Frau blieb stehen, stellte ihren Korb a und sah sich nach allen Richtungen um. Hinter ihr schob sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten eines Baums auf den Weg.
»Na, na, na.«, sagte eine tiefe, bedrohlich klingende Männerstimme. »Was macht denn eine kleine Frau so ganz allein in diesem tiefen, dunklen Wald? Hast du keine Angst, dass sich hier Banditen und Verbrecher herumtreiben, die dir Böses antun könnten?«
Die kleine Frau ging langsam auf den viel größeren Mann zu, bis sie sein Gesicht erkennen konnte. Dann lächelte sie ihn an und schüttelte den Kopf.
»Warum sollte ich Angst haben?«, fragte sie zurück. »Ich lebe schon immer hier. Das ist mein Wald und nie ist mir etwas passiert.«
»Das könnte sich aber ganz schnell ändern.«, bekam sie die Antwort.
Gleichzeitig traten weitere fiese Gestalten auf den Weg. Einige von ihnen trugen große Männer in Händen.
»Ich glaube nicht, dass mir hier etwas Schlimmes geschehen wird. Ich habe einen großen Beschützer, der mich ständig im Auge behält.«
Die kleine Frau griff wieder nach ihrem Korb und wollte sich auf den Heimweg machen, als sie von den Männern unringt wurde.
»Du gehst nirgendwo hin.«, sagte der Anführer und setzte einen bösen Blick auf.
»Ich sehe hier niemanden, der dich beschützen kann. Also rauben wir dich aus. Gib uns alles, was du besitzt. Dann lassen wir dich vielleicht laufen.«
Die kleine Frau setzte ihren Korb wieder ab und hörte nun ihrerseits auf zu lächeln.
»Leg dich nicht mit mir an. Es würde dir übel ergehen, wenn mein Beschützer dich erwischt.«
Die Banditen begannen zu lachen und hielten sich die schmierigen Bäuche. Diesen Moment nutzte die kleine Frau, schnappte sich den Korb und schlüpfte aus dem Kreis heraus. Dann rannte sie in Richtung ihres Hauses.
»Verdammt! Sie haut ab.«, brüllte der Anführer und trieb seine Leute an, die Frau zu verfolgen.
Es ging über Stock und Stein, um einige Bäume und Kurven herum, Steigungen hinauf und hinab. Meter um Meter holten die Banditen auf, bis sie ihr Opfer am Fuße eines hohen Berges eingeholt und erneut umringt hatten.
»Ich warne euch ein letztes Mal.«, sagte die kleine Frau mit fester Stimme. Mein großer Beschützer hat euch alle im Blick. Er wird euch estrafen, wenn ihr mir nur ein einziges Haar krümmt.«
Die Banditen lachten. Der Anführer griff der Frau an den Kopf und zupfte ihr ein einzelnes Haar ab, welches er ausgiebig betrachtete.
»So, so.«, murmelte er. »Es reicht, wenn ich dir ein Haar krümme?«
Er knickte das Haar und ließ es dann achtlos fallen.
»Ich sehe hier niemanden, der es hätte sehen können. Wo also bleibt dein großer Beschützer. Bildest du ihn dir vielleicht nur ein?«
In diesem Moment erbebte die Erde. Vom Abhang, vor dem sie standen, rollten einige Steine herab. Ein bedrohliches Grollen erschütterte die Luft.
»Was?«, erschraken die Banditen. »Was zum Teufel passiert hier?«
Die kleine Frau grinste. »Ich hatte euch gewarnt. Ihr habt meinen großen Beschützer erzürnt. Jetzt ist er erwacht und wird euch bestrafen.«
Sie zeigte mit der Hand zum Berg hinauf, der sich langsam in Bewegung setzte und erhob.
»Das glaube ich nicht.«, rief der Anführer. »Der Berg lebt.«
Sofort nahmen die Banditen ihre Beine in die Hände und rannten um ihr Leben. Schnell verschwanden sie in der Dunkelheit des Waldes und suchten sich ein Versteck.
Der Berg hingegen setzte sich wieder auf seinen Platz und zwinkerte der kleinen Frau noch einmal zu, während sie sich vergnügt auf den Heimweg machte, um ein leckeres Mittagsmahl zu kochen.

(c) 2019, Marco Wittler

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