763. Insel des Schreckens (Anton und der Neelefant 02)

Insel des Schreckens

Es war ein trüber, verregneter Abend. Während das wenige Sonnenlicht, dass die Welt noch erhellte, langsam verschwand, zog dichter Nebel auf und ließ alles in sich verschwinden. Man konnte nur noch wenige Meter weit schauen. Es war nicht mehr zu erahnen, wohin man ging und welche Himmelsrichtung man einschlug.
Genau zu dieser Zeit schwebte völlig lautlos ein großer Papierflieger durch die unzähligen Wolken.
»Wir sollten langsam einen Platz zum Landen finden.«, ertönte eine kleine, piepsige Stimme. »Wenn es noch lange auf unseren Flieger regnet, weicht das Papier auf und wir stürzen ab.«
Die Stimme gehörte Anton, einer kleinen Maus.
»Ich habe schon ein paar Mal versucht, den Flieger höher und über die Wolken zu steuern, aber wir sind einfach zu schwer dafür. Es tut mir leid.«
Diese Entschuldigung wurde von einem großen, schweren Felsen ausgesprochen.
Moment. Ein großer, sprechender Felsen, der in einem Papierflieger durch die Wolken fliegt?
Nein. Es war kein Felsen. Es war der Neelefant, ein großes Tier mit langem Rüssel und der beste Freund von Anton.
»Das muss dir nicht leid tun.«, antwortete Anton. Du bist nicht zu schwer. Du bist halt einfach so wie du bist und das ist gut so. Wir sollten uns nur einfach einen Landeplatz suchen und den Flieger unterstellen. Da würden mir schon ein paar Bäume ausreichen.«
Der Neelefant nickte und zog an den Seiten des Papierfliegers. »Ich gehe tiefer. Vielleicht finden wir einen trockenen Platz.«
Tatsächlich verlor der Flieger schnell an Höhe. Zum Glück der beiden Freunde war der Nebel nun nicht mehr ganz so dicht wie kurz unter den Wolken. Nach ein paar Minuten wurde das Meer unter ihnen sichtbar.
»Wo sollen wir nur hin?«, war Anton verzweifelt. »Wenn wir auf dem Wasser landen, gehen wir in wenigen Minuten unter und ertrinken.«
Der Neelefant war da etwas zuversichtlicher. Er war auch viel größer als die Maus und konnte besser über die Ränder des Fliegers schauen.
»Da drüben ist eine Insel. Die sollten wir recht schnell erreichen. Es sieht aus, als würden auf ihr Palmen wachsen. Da könnten wir uns vor dem Regen schützen.«
Der Neelefant steuerte den Flieger zur Insel. Nur wenige Minuten später setzten sie auf dem Strand auf.
Gemeinsam sprangen die beiden Freunde an Land und zogen ihr Fluggerät ins Trockene.
Mittlerweile war es fast komplett dunkel geworden. Die Nacht hatte den Tag vertrieben und eroberte nun unerbittlich die Welt.
»Ich finde es sehr unheimlich hier.«, beklagte sich Anton. »Aus dem Palmenwald kommen sehr seltsame Geräusche. Ich will nicht hoffen, dass dort wilde Tiere leben, die mich auffressen wollen.«
Der Neelefant lachte und zog Anton näher an sich heran.
»Keine Sorge, mein Kleiner. Ich werde auf dich aufpassen.«
»Prima.«, freute sich Anton. »Weißt du, als kleine Maus hat man viele Feinde, die Appetit auf kleine Häppchen haben. Ich habe immer Angst, dass mich jemand frisst.«
Es raschelte wenige Meter von den Beiden entfernt. Irgendwas schlich dort durchs Gebüsch und näherte sich rasch.
»Da … da ist was.«, stotterte Anton und klammerte sich am Neelefanten fest.
»Das ist bestimmt ein Raubtier, dass noch auf der Suche nach seinem Abendessen ist.«
Anton begann zu zittern. Auch dem Neelefanten war nicht geheuer. Er war zwar riesig, im Vergleich zur Maus, aber dafür war an ihm auch viel mehr zum Fressen.
»Ist das wer?«, riefen die Beiden fast gleichzeitig?
»Na los, zeig dich.«, ließ Anton noch von sich hören. »Oder … oder wir laufen weg.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Das Rascheln wurde lauter und kam weiterhin näher. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis es auf die zwei Freunde traf.
Sie hielten sich gegenseitig fest. Plötzlich traten mehrere dunkle Gestalten auf den Strand hinaus. Sie waren nicht sehr groß, vielleicht einen Meter, doch auf ihren Schultern thronten große Kürbisköpfe mit leuchtenden Augen.
»Halloweengeister!«, schrie Anton.
Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Platz. Wie ein geölter Blitz rannte er zum Papierflieger und sprang in ihn hinein.
»Los, Neelefant. Wir müssen hier verschwinden.«
Das ließ sich der Neelefant nicht noch einmal sagen. Auch er lief los, packte den Flieger und schob ihn mit schnellen Schritten an. Wenige Meter weiter hob das Gefährt ab.
Der Neelefant sprang in den Flieger. Dann flogen die Freunde wieder gen Himmel und waren in Sicherheit.
»Das war ganz schön knapp.«, sagte der Neelefant erleichtert. »Was waren das bloß für schreckliche Geschöpfe?«
Während der Flieger noch eine Runde über der Insel drehte, um an Höhe zu gewinnen, sahen Anton und der Neelefant die Kürbisköpfe auf dem Strand stehen. Einer von ihnen nahm seinen Kopf ab. Darunter kam ein weiterer, kleinerer und nicht so fürchterlicher Kopf zum Vorschein.
Diese so schrecklichen Wesen waren kleine Tiere, die sich verkleidet hatten.
»Wer von euch hat nochmal behauptet, dass man Gäste mit Kürbissen auf den Köpfen begrüßt?«, wollte dieser von den anderen wissen.
»Das war ja eine super geniale Idee. So schnell sind Besucher noch nie vor uns geflüchtet.«
Die Inselbewohner ließen traurig die Schultern hängen und verzogen sich wieder im Palmenwald. Anton und der Neelefant atmeten tief durch und begannen dann zu lachen. Sie waren froh, dass sich dieses Abenteuer als völlig ungefährlich herausgestellt hatte.
»Und nun machen wir uns auf den Weg zu einem neuen Ort, der vieleicht nicht ganz so spannend und Angst einflößend ist.«
Der Neelefant nickte und steuerte den Flieger in eine neue Richtung.

(c) 2019, Marco Wittler

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