792. Der Flüchtling

Der Flüchtling

Der Weihnachtsmann hatte die letzte Station seiner Reise erreicht. Mit seinem Schlitten landete er auf dem Dach unter sich. Dann stieg er aus und ließ sich durch den Kamin hinab.
Im Wohnzimmer angekommen, legte er die letzten Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Doch plötzlich stockte er in seiner Bewegung.
»Nanu?«
Er griff ganz tief in seinen großen Sack und suchte mit der Hand darin herum, konnte aber nichts mehr finden.
»Wo ist denn der letzte Schokoladenweihnachtsmann geblieben? Da muss doch noch einer übrig sein.«
Es war dem echten Weihnachtsmann sehr wichtig, jedem Kind einen süßen Zwilling von sich selbst zu schenken. Das war eine langjährige Tradition. Doch in diesem Jahr würde er wohl ein einziges Kind enttäuschen müssen.
»Da hat wohl einer meiner Elfen nicht richtig nachgezählt, als der Sack gepackt wurde. Das muss ich sofort nach meiner Rückkehr ansprechen.«
Der Weihnachtsmann kletterte im Kamin zurück nach oben, setzte sich in seinen Schlitten und flog damit nach Hause zum Nordpol.

Ein paar Stunden später hatte er sein Ziel fast erreicht. Unter dem Schlitten sah der Weihnachtsmann den Nordpol, sein Wohnhaus und die Werkstätten der Elfen, in denen die Geschenke für die vielen Kinder der ganzen Welt gebaut und verpackt wurden. Aber etwas unterschied sich zu den vielen Vorjahren.
»Was geht denn da vor sich?«, fragte sich der Weihnachtsmann und setzte schnell zur Landung an.
»Es sieht aus, als wären alle in heller Aufregung.«
Zwei Minuten später landeten die Rentiere mit dem Schlitten. Der Weihnachtsmann stieg schnell aus und lief sofort zum Ersten Elfen, der in der Abwesenheit des Chefs für Ordnung sorgte.
»Was ist los?«, wollte der Weihnachtsmann wissen? Warum wuseln hier alle wie wild geworden herum? Ist was passiert?«
Der Oberelf bekam ein hochrotes Gesicht und ließ den Blick zu Boden fallen.
»Es ist dir vielleicht schon aufgefallen, dass die ein einzelner Schokoweihnachtsmann gefehlt hat. Das liegt daran, dass er nicht verschenkt werden wollte. Er hat sich kurz vor deinem Abflug aus dem Sack geschlichen und versteckt.«
Der Weihnachtsmann nickte.
»Vor ein paar Stunden ist der Flüchtling dann einem von uns über den Weg gelaufen. Er konnte sich aber erneut verstecken. Seitdem suchen wir ihn. Es konnte ihn aber kein einziger Elf einfangen.«
Der Weihnachtsmann kratzte sich am weiß behaarten Kinn und legte die Stirn in Falten. Er dachte angestrengt nach.
»Danke für eure Hilfe.«, sagte er schließlich. »Es ist nicht eure Schuld, dass der Kleine abgehauen ist. Sowas ist schließlich noch nie passiert.«
Dann stieg der Weihnachtsmann wieder auf seinen Schlitten, richtete sich zu voller Größe auf und hielt die Hände an den Mund, um besonders laut rufen zu können.
»Du kannst jetzt raus kommen. Das Weihnachtsfest ist gelaufen. Es wird dich jetzt niemand mehr einfangen und an ein Kind verschenken. Das ist mein Ehrenwort.«
Sie warteten. Während der Oberelf den Kopf schüttelte, war der Weihnachtsmann guter Hoffnung.
»Er wird nicht kommen.«, sagte der Elf. »Er wird denken, dass wir ihn reinlegen wollen.«
Doch dann tauchte der Schokoweihnachtsmann doch noch auf. Er hatte sich in einem Schneehaufen versteckt, aus dem er sich nun frei schaufelte.
»Ehrlich? Ich werde nicht verschenkt? Ich bin jetzt sicher?«
Der echte Weihnachtsmann nickte lächelnd.
»Ich habe dir mein Ehrenwort gegeben. Du kannst bei uns bleiben. Es würde mich nur interessieren, warum du aus meinem Geschenkesack geflüchtet bist.«
Der Schokoweihnachtsmann wurde verlegen.
»Ich wollte nicht, dass mich ein Kind aufisst. Es ist mir lieber, am Leben zu bleiben.«
Der Weihnachtsmann nickte. »Kann ich gut verstehen. Geht mir nicht anders. Hätte ich gewusst, dass einer von euch mehr ist, als eine Schokoladenfigur, dann hätte ich dich auch gar nicht erst einpacken lassen.«
Er winkte seinem kleinen Ebenbild, ihm in die Elfenwerkstatt zu folgen.
»Wird Zeit für unsere eigene Weihnachtsfeier. Du bist herzlich eingeladen.«

(c) 2019, Marco Wittler

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