794. Ich erstürmte den dunklen Kamin (Mann und Manni 06)

Ich erstürmte den dunklen Kamin

Ich hatte die Beine weit ausgestreckt, lag auf meinem Rücken, während mein gut genährter Bauch zur Decke zeigte. Ich schlief tief und fest in meinem alten,muffigen Pappkarton.
Ja, du hast tatsächlich richtig gelesen. Ich lag hatte mich zum Schlafen in einen Pappkarton gelegt. Das ist auch gar nicht so ungewöhnlich, auch wenn es dir jetzt gerade ziemlich komisch vorkommen mag.
Das mir dieser Platz so gut gefällt liegt daran, dass ich ein Kater bin. Und wie du vielleicht schon mal gehört oder sogar mit eigenen Augen gesehen hast, stehen wir Katzen total auf Pappkartons.
Wo wir schon mal dabei sind, stelle ich mich dir gleich mal vor. Mein Name ist Manni. Ich bin ein stattlicher Kater, der mit ein paar wirklich seltsamen Figuren in einer Wohngemeinschaft lebt. Das kann manchmal praktisch sein, wenn es darum geht, dass mich jemand füttert, kann aber auch sehr nervig sein, wenn ich gerade gefüttert wurde und mir andere Katzen das Futter streitig machen wollen.
Denk jetzt nur nicht, dass ich Schwierigkeiten hätte, mich gegen meine Artgenossen zur Wehr zu setzen. Die Wahrheit ist, dass ich, und nur ich, hier der Boss bin. Alles hört auf mein Kommando und macht, was ich sage. Das gilt nicht nur für die Katzen, sondern auch für die Menschen.
Aber wieder zurück zu mir. Ich lag also in dieser Nacht in meinem Pappkarton und schlief tief und fest, bis mich ein Geräusch weckte.
Ich muss dazu erklären, dass es eigentlich nie vorkommt, dass mich Geräusche wecken, denn ich habe einen extrem tiefen Schlaf und lasse mich dabei von nichts stören. Es gibt nur eine Ausnahme: wenn ich Hunger bekomme. Dann stehe ich auf, suche die Kammer der Wohngemeinschaft auf und suche mir irgendwas, dass ich fressen kann.
Doch in dieser Nacht war es ausnahmsweise anders. Ich hörte also dieses Geräusch, das mir mehr als seltsam vorkam. Zuerst waren es Schritte. Aber es war niemand sonst mit mir im Raum. Es klang nicht nach Katzen, wie denn auch. Jeder weiß, dass Katzen so leise schleichen können, dass sie niemand hört. Es klang nach Menschenfüßen. Doch die einzigen Menschen, denen ich hier bei mir ein Obdach gegeben hatte, lagen im Bett.
Ich wunderte mich außerdem, woher die Geräusche kamen. Ihr Ursprung schien sich auf dem Hausdach zu befinden. Doch wie sollte dort ein Mensch hinauf kommen? Selbst ein Einbrecher hätte eine Leiter mitbringen müssen.
Aber was, wenn es doch ein Einbrecher war? Ich machte mir nun doch ein wenig Sorgen.
Die Schritte wanderten über das Dach hinweg. Der Einbrecher suchte wohl nach einer Möglichkeit, bei uns einzudringen. Früher oder später, da war ich mir sicher, würde er einen Weg finden. Es wurde also allerhöchste Zeit, mein Team zu wecken und etwas zu unternehmen.
Möglichst schnell stand ich aus meinem Pappkarton auf, reckte und streckte mich, buckelte meinen Rücken und trottete dann ins Schlafzimmer. Dort weckte ich als erstes den Mann. Somit war das Grundgerüst unserer einzigartigen Gruppe gebildet: Mann und Manni, das Superteam.
Als nächstes lief ich die einzelnen Schlafkörbchen ab. Im ersten lag die Mini-Mietze, die kleine Katze, die tagsüber wie ein Flummi durch die Wohnung flitzte und vor nichts und niemandem Angst zu haben schien. In Körbchen Nummer zwei lag mein größter Feind, zumindest wenn es um die gerechte Verteilung des Futters ging: Lord Schweinenase, wie immer mit verschmierter Nase. Er wurde seinem Namen mal wieder mehr als gerecht. Er war halt nicht der Klügste.
Körbchen Nummer drei war verlassen. Dort sollte eigentlich der Bengale liegen, ein Kater mit einem gefleckten Fell wie ein Gepard. Er hatte in seinem Verhalten allerdings nichts mit dieser Wildkatze zu tun. Er war ein Angsthase. Ich griff also beherzt unters Bett und zog ihn aus seinem Versteck hervor.
Die Frau ließ ich schlafen. Sie ist mit Abstand die Schönste von uns und braucht ihren Schönheitsschlaf, damit es auch so in Zukunft so bleibt.
Nun sahen mich vier verschlafene Augenpaare an und wollten wissen, was los war. Ohne viel Worte zu verlieren, zeigte ich zur Decke, von der aus weiterhin die Schritte zu hören waren.
Der Mann nickte. Er hatte verstanden, worum es ging. Dann schlich er zur Kammer und bewaffnete sich dort mit einem Besen.
Gemeinsam verfolgten wir nun die Schritte. Sie näherten sich nun stetig einem bestimmten Ziel: dem Kamin. Es wurde uns klar, dass der Einbrecher dort einsteigen und uns ausrauben wollte.
Wir postierten uns um den Kamin herum. Lord Schweinenase sah aus, als würde ihn das Ganze nicht interessieren. Vielleicht verstand er auch einfach nicht den Ernst der Lage. So genau konnte das bei ihm einfach niemand sagen.
Der Mann hob bedrohlich den Besen, während die Mini-Mietze ihre Krallen ausfuhr und kaum noch zu bändigen war. Nur zu gern wäre sie den Kamin nach oben gestürmt, um den Verbrecher in Fetzen zu reißen. Aber noch konnte ich sie unter Kontrolle halten.
Der Bengale saß etwas abseits, sah verängstigt auf den Kamin und zitterte am ganzen Körper. Ich nickte ihm zu und gab ihm zu verstehen, dass er gehen könne. Das ließ er sich natürlich nicht zweimal sagen. In einem irren Tempo raste er ins Schlafzimmer und verschwand unter dem Bett. Da waren wir also nur noch zu viert.
Die Schritte verstummten. Stattdessen hörten wir nun, dass eindeutig jemand den Kamin bestiegen hatte und darin herab kletterte. Es würde nur noch wenige Sekunden dauern, bis wir dem Übeltäter gegenüber stehen würden. Wir machten uns bereit.
Und dann tauchte ein in einer roten Hose bekleideter, dicker Hintern auf, der langsam tiefer rutschte.
Ich winkte der Mini-Mietze zu, die nun nicht mehr zu bremsen war. Sie stürzte sich auf den Einbrecher und schlug ihm ihre Krallen in den Leib.
Ein lauter Aufschrei erfüllte den Raum. Der Einbrecher fiel vor Schreck den letzten Meter zu Boden und landete in der erkalteten Asche vom Vorabend.
Im Augenwinkel erkannte ich Lord Schweinenase, der nun auch begriff, was eigentlich vor sich ging. Er sprang mit einem kräftigen Satz auf dein Eindringling und blieb auf dessen Bauch sitzen. Weiter unternahm er nichts. Was für ein Dummkopf.
Der Mann brachte sich und seinen Besen in Position und wollte gerade zuschlagen, als das Licht im Raum eingeschaltet wurde.
»Was macht ihr denn da?«, fragte die Frau und drängelte sich zwischen uns.
Entsetzt sah sie auf den in einen roten Mantel gekleideten, bärtigen Mann.
»Das glaube ich jetzt nicht. Ihr verprügelt den Weihnachtsmann. Wie könnt ihr nur?«
Sie schüttelte den Kopf, vertrieb Lord Schweinenase und zog die Krallen der Mini-Mietze einzeln aus dem am Boden liegenden Mann.
Ich war völlig überrascht. Weihnachtsmann? Natürlich. Ein schneller Blick auf den Kalender zeigte mir, dass Morgen Weihnachten stattfinden würde. Was für ein schlimmes Versehen.
Sofort zeigte ich mit der Pfote auf die Mini-Mietze, Lord Schweinenase und den Mann. Sie waren schuld. Ganz allein. Sie hatten den Weihnachtsmann verletzt. Ich hatte damit nichts zu tun.
Deswegen sah ich auch zu, dass ich möglichst schnell in meinen Pappkarton verzog, wo ich mich möglichst klein einrollte.
Die Frau half dem Weihnachtsmann beim Aufstehen, entschuldigte sich mindestens eintausend Mal bei ihm und warf uns allen böse Blicke zu. Warum sie auch mich damit bedachte, konnte ich mir nicht erklären. Ich hatte schließlich mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt.
Trotz dieser Unannehmlichkeit ließ der Weihnachtsmann für jeden von uns ein Geschenk da. Unsere Wohngemeinschaft war nicht der erste Ort, an dem man ihn mit einem Einbrecher verwechselt hatte.

(c) 2019, Marco Wittler

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